20. Team 2

Und so saßen wir denn im Wohnzimmer von Peter Nettekoven, der zu der Zeit Generalvikar in Köln war. Das war am 3.September 1972. Unser Team hatte sich erweitert. Im August 1971 war Willi Brähler zum Diakon geweiht worden. Da er schon vor Beginn seiner Ausbildung in Hochdahl wohnte, wurde er hier auch Diakon im Hauptberuf.

 

In dem Gespräch beim Generalvikar wollten wir überlegen und entscheiden, wie die Gemeindeleitung in Hochdahl in Zukunft aussehen und arbeiten sollte. Dabei war die Beratung „ergebnisoffen“ – wie man heute sagen würde. Peter Nettekoven war in der Lage, eine vertrauensvolle und positive Atmosphäre zu schaffen. Und wir waren sicher, dass er uns ernst nahm und gemeinsam mit uns nach einer wirklichen Lösung suchen würde. Es war klar, dass er bei seinen Überlegungen von dem Zustand ausging, der bislang in Hochdahl selbstverständlich gewesen war: die Zusammenarbeit als Team hatte die Position des „kanonischen Pfarrers“ nicht aufgehoben. Das hatte uns bei Hans Meixner keine Probleme bereitet und für die Gemeinde war er der „Herr Pastor“ und wir die beiden Kapläne. Die neuen Bedingungen bestanden darin, dass kein neuer Priester mehr kommen würde und demnach die Frage der Leitung zwischen uns „Übriggebliebenen“ ausgehandelt werden musste. Vermutlich lautete die erste Frage also schlicht: „Wer von Euch wird der neue Pfarrer von Hochdahl?“ Und diese Frage konnten oder wollten wir nicht beantworten. Inzwischen hatte sich nämlich eine neue Vorstellung in unseren Köpfen festgesetzt. Wie sie sich konkret entwickelt hat, ist unklar. Allerdings lag sie eigentlich nahe. Wenn die Leitung der Gemeinde von einem Team wahrgenommen wird, warum muss es dann innerhalb des Teams Abstufungen der Verantwortung oder der Position geben? Also schlugen wir vor, dass das Team gemeinsam die Leitung der Gemeinde übernehmen sollte, ohne Differenzierung in Pfarrer, Kaplan und Diakon. Peter Nettekoven hatte verständlicherweise mit diesem Vorschlag Schwierigkeiten. Dabei störte es ihn weniger, dass das Kirchenrecht diese Konstruktion nicht vorsieht. Er hatte eher die Sorge, dass wir auf Dauer die für diese Arbeitsform nötige Übereinstimmung nicht beibehalten könnten. Es war ja durchaus möglich, dass wir nach einiger Zeit in Streit geraten würden und dann keine Zusammenarbeit mehr möglich sein würde. Wir strotzten offensichtlich vor Optimismus, sodass der Generalvikar schließlich zustimmte. Er versicherte uns allerdings, er stehe „mit dem Verbandskasten bereit“, wenn wir doch in Schwierigkeiten geraten sollten.

 

„Die Hochdahler Gemeinde wird durch das Team geleitet.“ Das bedeutete, dass die Mitglieder des Teams grundsätzlich gleichberechtigt waren. Beide Kapläne bekamen den Titel „Pfarrer“. Nach außen, für die Leute, war nicht klar – und auch nicht feststellbar –, wer denn nun der „kanonische Pfarrer“ war. Das interessierte auch niemanden. Gleichzeitig haben wir die Titulatur abgeschafft und uns nur mit dem Namen anreden lassen – treu der Weisung Jesu, die Matthäus in seinem Evangelium formuliert hat (Mt 23, 8 ff). – Wenn es keinen „Pfarrer“ mehr gab, dann fiel eine beliebte Beschwerdeinstanz weg. In allen hierarchischen Systemen liegt es nahe, sich bei einem Konflikt mit einem Untergebenen an seinen Vorgesetzten zu wenden, um sich zu beschweren. Sind die Teammitglieder gleichberechtigt,

müssen die beiden Beteiligten das Problem miteinander klären. – Der Wegfall der Hierarchie bedeutet für die Gemeinde die Chance zu mehr Brüderlichkeit (Mt 23, 8c). Jedes Mitglied des Teams war für die Gemeindemitglieder in gleicher Weise ansprechbar. An wen man sich dann konkret wandte, das konnte vom Zufall abhängig sein; man sprach mit dem, den man gerade traf. Wenn es um ein Anliegen in einem bestimmten Bereich ging – zum Beispiel um Kindergottesdienst, um Fragen der Verwaltung, um Jugendchor, um Caritas usw. – dann trug man das dem dafür Zuständigen vor. Wie überall war es oft auch einfach eine Frage der Sympathie. Das ist natürlich, war aber auch nicht immer unproblematisch; schon früh ging das Gespenst mit dem Namen „Fanclub“ um. 

  

Die gemeinsame Verantwortung des Teams wurde vor allem wirksam, wenn es um den gemeinsamen Weg der Gemeinde in die Zukunft ging. Wir waren ja 1972 noch mitten im Aufbau der katholischen Franziskusgemeinde in der neuen Stadt Hochdahl. Wie lebt eine christliche Gemeinde? Welche Strukturen braucht sie? Wie wächst sie im Glauben und in der Erkenntnis? Welche Gebäude und Räume sind nötig? Wie kann die Bauplanung und Realisierung aussehen? Wie ist die Beziehung zur evangelischen Gemeinde? Welche Kontakte haben wir zur Zivilgemeinde bzw. (ab 1975) zur Stadt Erkrath? Solche Fragen mussten sehr grundlegend und verantwortlich geklärt und entschieden werden. Und dafür war das gesamte Team verantwortlich. – Die einzelnen Arbeitsbereiche wurden demgegenüber auf die einzelnen Teammitglieder oder andere Mitarbeiter aufgeteilt. Dadurch entstand zunächst eine sachlich abgegrenzte Zuständigkeit. Gerd Verhoeven hat sich zum Beispiel über viele Jahre hin um die Verwaltung und die Arbeit mit dem Kirchenvorstand gekümmert. Viel Zeit und Phantasie widmete er einer lebendigen Liturgie, sowohl im Gemeindegottesdienst als auch für die Kindermessen. Willi Brähler sah seine Aufgabe als Diakon besonders in der caritativen Arbeit und in der Sorge um die Kranken. Für mich war die Arbeit mit dem Jugendchor und dem Jugendausschuss ein geschätztes Tätigkeitsfeld. Später kam noch Hildegard Smoch mit ins Team; sie war für die Sozialarbeit der Gemeinde zuständig. 1978 schließlich vervollständigte Bernd Schellenberger die Truppe; er übernahm die Verantwortung für die Jugendarbeit. Daneben trat eine von Zeit zu Zeit wechselnde räumliche Zuständigkeit. In der Vorbereitung auf Erstkommunion und Buße war jedes Teammitglied für ein oder zwei Stadtviertel  verantwortlich. – Wer für eine bestimmte Aufgabe zuständig war, hatte auch die gesamte Verantwortung für seine Arbeit. Die übrigen Teammitglieder hatten nicht das Recht, in seine Arbeit hineinzureden oder in anderer Weise Einfluss zu nehmen. Eine solch strenge Abgrenzung der Zuständigkeiten ist unbedingt nötig. Wenn man sie in einem größeren Bereich (zum Beispiel in den heutigen Großpfarreien) nicht vornimmt, fühlen sich irgendwann alle für alles verantwortlich und die Arbeit vervielfältigt sich. Die Koordinierung der Arbeit wird schwieriger und für die Leute werden einfache Vorgänge – wie die Anmeldung einer Taufe – sehr kompliziert, weil dieser oder jener noch gefragt werden muss. – Die Einzelnen hatten im Team einen starken Rückhalt. Wenn jemand in der Dienstbesprechung den Wunsch hatte, von seiner Tätigkeit oder seinen Erfahrungen zu erzählen, dann hatte er dazu immer die Möglichkeit. Und oft haben wir dann unsere unterschiedlichen Ansichten und Meinungen ausgetauscht, haben miteinander beraten, wenn ein Problem oder ein Konflikt zur Debatte stand. Die Entscheidung über das weitere Vorgehen musste am Ende aber dem Zuständigen überlassen bleiben. – Das Team übte also keine Aufsicht aus über die Arbeit des Einzelnen und der jeweils Verantwortliche brauchte vor dem Team keine Rechenschaft abzulegen. Es gab keine Anordnungen oder Verbote des Teams, an die sich der Einzelne hätte halten müssen. Selbst der Versuch, den anderen so lange zu bereden bis er schließlich klein beigab, war nicht gestattet. Und ich kann mich erinnern, dass ich mich mehrmals bei einem solchen Versuch ertappte. – Wenn es möglich war, den gemeinsamen Geist bis in die einzelnen Arbeitsbereiche hinein zu erkennen, dann konnte das nur das Ergebnis von Vertrauen und gegenseitiger Offenheit sein. An der Stelle wird aber auch sichtbar, wie gefährdet dieser „gemeinsame Geist“ und damit das ganze System der Teamarbeit mit dieser hohen Verbindlichkeit war. Auf das hierarchische System, auf den bestimmenden „Durchgriff“ von oben nach unten, letztlich überhaupt auf Machtmittel zu verzichten, ist nur möglich, wenn der „gemeinsame Geist“ sehr stark ist. Jeder normale Mensch hält eine solche Lebens- und Arbeitsweise für unmöglich. Wahrscheinlich braucht man dazu den Heiligen Geist.

 

Wenn es um den gemeinsamen Weg der Gemeinde in die Zukunft ging, war also das Team als Ganzes verantwortlich. Das bedeutete, dass alle wesentlichen Entscheidungen mit einem Höchstmaß an Übereinstimmung getroffen werden mussten. Dabei ist die Ausgangssituation bekannt und überall die gleiche. Es gibt eine bestimmte Aufgabe und eine Anzahl von Menschen, die zur Bewältigung dieser Aufgabe sehr unterschiedliche Vorstellungen haben. Und dann beginnt die Diskussion. Wenn die Teilnehmer „jung, dynamisch und erfolgsorientiert“ sind, kann man gespannt sein, wer sich schließlich durchsetzt. Man kann sich auch als Beobachter verhalten und zusehen, wer ein gesteigertes Bedürfnis hat sich zu profilieren oder als der Überlegene zu erscheinen. Vielleicht ist es gut gemeint, wenn nach einer heftigen Diskussion alle nach einer Abstimmung verlangen. Und wenn eine Gruppe sich im Gespräch nicht „gefunden“ hat, gibt es möglicherweise keinen anderen Ausweg. Aber das ändert nichts daran, dass eine Abstimmung meist keine richtige Lösung garantiert, sondern nur die gerade vorhandenen Machtverhältnisse abbildet. Bei unseren Bemühungen im Team sind wir sicherlich auch oft in diese „normalen“ Abläufe geraten: einer versuchte den anderen zu übertrumpfen, wir waren rechthaberisch, uneinsichtig oder resigniert. Und nicht immer gelingt es, die eigenen Bedürfnisse und vor allem die Versuchung der Macht im Zaum zu halten. Eigentlich müsste es das Ziel sein, in einer konkreten Frage das sachlich Richtige zu finden. Dafür kann ein Team eine wertvolle Hilfe sein. Denn „vier oder acht Augen sehen mehr als zwei“ und ein lebendiger Gedankenaustausch kann davor bewahren, an einer einseitigen Sicht festzuhalten. Das setzt allerdings ein offenes und vertrauensvolles Gespräch voraus und eine Atmosphäre, in der jeder sich ernst genommen weiß. Dann kann man seine Ansicht vertreten ohne gewalttätig zu werden. Und es braucht nicht so weit zu kommen, dass man abstimmen muss. Die Eigenart einer solchen Zusammenarbeit ist geprägt von dem Vertrauen, dass die Wahrheit oder das Richtige in einer Situation grundsätzlich erkennbar ist und dass es sich immer lohnt, danach zu „suchen und zu fragen“.

 

Bei unserer Arbeit im Team ging es also darum, die Wahrheit suchend und fragend zu erkennen. Nicht, was wir selbst wollen, ist entscheidend, sondern das, was uns vorgegeben ist. Und das formuliert Paulus mit dem Satz: „Jesus ist der Herr“ (1 Kor 12). Diese Aussage prägt und verändert alles, was man über Leitung in der Kirche sagen kann. Wenn Jesus Christus der Herr ist, dann hat jeder, der in der Kirche Leitung wahrnimmt, als oberste Verpflichtung, nach der Meinung und der Weisung dieses Herrn zu fragen. Dann ist der Herr Pfarrer nicht mehr der „Herr“, sondern ein Suchender. Und der so genannte „Leitende Pfarrer“ muss dann mehr „suchen und fragen“ als die andern. Steht er allein, dann ist die Suche nach der Wahrheit nicht so leicht, weil die Bindung an die eigenen Prägungen und Vorstellungen so oft die Erkenntnis blockiert. Die Korrektur durch die Auseinandersetzung zwischen drei verschiedenen Leuten kann dann hilfreich sein. Und vielleicht ist unter denen auch noch einer, der den Weisungen des Herrn etwas näher steht und sie besser ins eigene und gemeinschaftliche Leben übersetzen kann. Wenn es um die Wahrheit und die Weisung Jesu Christi geht, dann ist die gemeinsame Suche der richtige Weg. Und dann ist Leitung im Team möglich und sogar erstrebenswert.

 

Es gibt sicherlich bis auf den heutigen Tag viele, für die dieser Weg ein Holzweg ist, aus grundsätzlichen oder praktischen Erwägungen. Eine gemeinsame Leitung durch mehrere Leute? Das kann doch nicht funktionieren. Juristen haben da ein Prinzip, das lautet: „Leitung ist unteilbar“. Im Volksmund lautet diese Formulierung etwas platter: Einer muss doch sagen, wo es lang geht. Die Möglichkeit, im Miteinander zu entdecken „wo es langgeht“, liegt für viele Menschen außerhalb ihrer Vorstellungen. Der juristische Spruch begegnete uns in den späten Jahren der Hochdahler Gemeinde in einem ganz anderen Zusammenhang. Die schwer erkrankte Leiterin eines Kindergartens sollte nach ihrer glücklichen Genesung zunächst mit einer verkürzten Arbeitszeit wieder einsteigen. Wie konnte das denn ermöglicht werden? Könnte sie sich denn mit ihrer bisherigen Vertreterin in die Leitung teilen? Aber Leitung ist doch unteilbar! Mit Rücksicht auf die gesundheitlichen Notwendigkeiten und mit der Mahnung zu genauer Absprache untereinander stimmten schließlich die Verantwortlichen der Relativierung juristischer Anforderungen zu. Es gibt offensichtlich Realitäten, die die juristische Perspektive sprengen.

 

Jeden Mittwoch saßen wir ab 10 Uhr für zweieinhalb Stunden zusammen. Wir hatten also genug Zeit, sowohl über Fragen aus den einzelnen Arbeitsbereichen als auch über die grundsätzliche theologische Ausrichtung der Seelsorge zu sprechen. Wieder und wieder haben wir zum Beispiel über die Gestalt und die Durchführung der Sakramentenvorbereitung gesprochen; und dann im Nachhinein über unsere Erfahrungen, und dann über notwendige Veränderungen für den nächsten Durchgang. Das weit verbreitete Argument: „Das haben wir doch immer so gemacht“, gab es bei uns nicht. Wichtig für die gemeinsame Linie im Team waren auch die so genannten Teamtage, die einmal im Monat in der Jugendbildungsstätte in Düsseldorf-Vennhausen stattfanden und bei denen oft auch der Vorsitzende des Pfarrgemeinderates dabei war. Dabei war es immer wieder möglich, wichtige Fragen und Erfahrungen etwas grundsätzlicher zu klären. Allerdings ist es nicht immer gelungen, uns zusammenzuraufen. Heute können wir uns darüber amüsieren, wie bei einem der Teamtage die Wogen so hoch schlugen, dass einer der Beteiligten unter Protest die Versammlung verließ und den Übriggebliebenen zumutete, mit der Bahn statt mit dem Auto nach Hause zu fahren. – Wenn man als Team zusammenarbeitet, scheint das mehr Zeit zu fordern als ein Dienst nach Anweisung. Aber die gemeinsame Auseinandersetzung hält die Gruppe auch näher an der Realität und näher an der Botschaft.

 

War die Arbeit im Team ein Erfolg? In den vielen Jahren ist von Mitgliedern der Gemeinde immer wieder gesagt worden, dass sie die Unterschiedlichkeit der Beteiligten schätzten. Wie weit das auch eine Zustimmung zu der Zusammenarbeit als Team bedeutete, ist dabei nicht auszumachen. Vermutlich haben viele darüber nicht so genau nachgedacht. Selbst für uns, die Mitglieder des Teams, waren die Anforderungen und Möglichkeiten dieser Arbeitsweise am Anfang nicht klar. Hätten wir das genau analysiert formulieren sollen, hätten wir das wahrscheinlich nicht gekonnt. Erst heute, bei dem Versuch einer nachträglichen Betrachtung und Wertung, wird manches deutlicher. Allerdings waren wir von der Richtigkeit dieses Weges zutiefst überzeugt, auch wenn dann manches nicht gelungen ist.

 

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