13. Die Gaben des Geistes

Ich weiß nicht mehr, wer diejenigen waren, die mir einen Zugang zum ersten Korintherbrief – und zwar zu den Kapiteln 12 bis 14 – erschlossen haben. Es muss schon während des Studiums gewesen sein. Und auch später habe ich mich immer wieder mit diesen Texten beschäftigt. Sie haben mich als Maßstab und faszinierendes Bild durch fast 50 Jahre Tätigkeit begleitet.

 

Paulus musste Stellung nehmen zu einem Konflikt, der in der Gemeinde von Korinth aufgebrochen war. Im Gottesdienst traten Leute auf, die „in Zungen redeten“. In der Apostelgeschichte wird an mehreren Stellen ebenfalls von solchen Erscheinungen gesprochen. Das waren ekstatische Formen des Gebetes, die aber für die übrigen Teilnehmer nicht verständlich waren. Die Einstellung der „Konfliktparteien“ kann man sich leicht vorstellen. Die Ekstatiker hielten sich wahrscheinlich für besonders fromm und  gläubig, während die anderen sich gestört fühlten. Und man kann sich denken, dass diese gegensätzlichen Einstellungen auch lautstark geäußert wurden.  – Es handelte sich also um ein Problem im Gottesdienst. Wir würden heute wahrscheinlich in einer solchen Situation zwei verschiedene Gottesdienste in getrennten Räumen oder zu unterschiedlichen Zeiten anbieten. Auf eine solche Idee ist Paulus gar nicht gekommen. Natürlich ist auch diese liturgische Frage interessant. Aber wichtiger war für mich immer das Bild von Gemeinde, dass Paulus im 12. Kapitel erläutert, um den Konflikt zu lösen.

 

Für Paulus gibt es nur eine Basis, auf der man sich über die Probleme unterhalten kann. Wenn jemand sagt: „Jesus sei verflucht“ – und das heißt heute doch wohl, dass Jesus ihn nicht interessiert – dann spricht er nicht im Heiligen Geist und dann ist er eben auch kein Gesprächspartner. Hier stehen alle nur gesellschaftlich begründeten Stellungnahmen und alle Beratungsfirmen auf dem Prüfstand!       Die gemeinsame Basis ist das Bekenntnis (nämlich im Heiligen Geist): „Jesus ist der Herr!“. Ich glaube, dass man das Bild, das Paulus dann entwickelt, nur verstehen und vertreten kann, wenn man mit dem Geist Jesu rechnet und ihn ernst nimmt.

(1 Kor 12,3)

 

Und dann kommen die Sätze, die für mich der Schlüssel zum Verständnis von Gemeinde sind. In der Einheitsübersetzung lauten sie: „Es gibt verschiedene Gnadengaben, aber nur den einen Geist. Es gibt verschiedene Dienste, aber nur den einen Herrn. Es gibt verschiedene Kräfte, die wirken, aber nur den einen Gott. Er bewirkt alles in allen.“ Was in der Gemeinde also an Gaben sichtbar wird, und er zählt in Vers 8 bis 10 einige auf, ist nicht menschliches Wollen und Konstruieren, sondern das Handeln des Geistes, des Herrn, Gottes. Natürlich müssen der Einzelne und die Gemeinde miteinander aufpassen, dass sie nicht auf den Versuch menschlicher Selbstdarstellung hereinfallen. Aber noch mehr müssen sie sich sorgen, damit sie nicht das Handeln Gottes im Leben der Gemeinde übersehen oder gar verachten. Und kein einziger hat das Recht, die Gaben des Geistes beiseite zu schieben. Die Gaben Gottes sind für jeden Menschen unverfügbar.

(1 Kor 12.4-6)

 

Eigentlich müsste diese Aussage doch selbstverständlich sein. Aber was geschieht, wenn diese Unverfügbarkeit in Konflikt gerät mit der Aufgabe des Bischofs, der seinen Dienst ebenfalls ausübt, weil „Gott in der Kirche die einen als  Apostel eingesetzt“ hat, die anderen als Propheten, die dritten als Lehrer … (1 Kor 12,28). Beides geht vom Geist Gottes aus. Wie kann das gelebt werden?

 

In der Vorstellung des Paulus ist allem Anschein nach kein Mitglied der Gemeinde von dieser Zuteilung der Gaben ausgenommen. Denn so wird man ja wohl den Vers 11 verstehen dürfen: „Das alles bewirkt ein und derselbe Geist; einem jeden teilt er seine besondere Gabe zu, wie er will“.

 (1 Kor 12,11)

 

Eine revolutionäre Veränderung gegenüber dem, was wir in der deutschen Kirche dauernd erleben! Und vielleicht eine Befreiung von dem Druck und der Überforderung, dem die nur noch wenigen Priester heute ausgeliefert sind. Es reicht ja schon, was die Fusionen an Durcheinander und an logistischen (!) Problemen den Priestern aufhalsen. Belastender ist aber die offensichtlich weithin akzeptierte Vorstellung, der Bischof oder der Priester sei der Einzige, über den das Heil zu den Menschen komme. Das kann kein Mensch leisten, daran muss ein Priester kaputt gehen. Wie befreiend müsste die Perspektive sein, dass Gott selbst alle Gaben und Fähigkeiten zur Verfügung stellt, damit der Glaube wächst und die Gemeinde lebt. Dann besteht die spannende Aufgabe darin, dem Handeln Gottes auf die Spur zu kommen und den Bruder und die Schwester als Träger der Gaben zu erkennen. Jesus hat verkündet, das Reich Gottes sei nahe und er hat diese Nähe Gottes selbst tagtäglich aufgenommen und zu Wort kommen lassen. Und für uns wird die Nähe des Reiches Gottes erfahrbar, wenn wir die Gaben des Geistes in allen Mitgliedern der Gemeinde erkennen.              

 

„Jedem aber wird die Offenbarung des Geistes geschenkt, damit sie anderen nützt.“ Die Gabe des Geistes ist ein Geschenk, in dem der Einzelne erleben kann, wie sehr die Liebe Gottes ihn annimmt und bejaht. Und diese Erfahrung kann immer wieder Angst und Selbstzweifel und persönliche Unsicherheit überwinden. Und man darf seiner Erwählung vertrauen und zu verstehen versuchen, welche Gabe und Fähigkeit einem gegeben ist. Und wenn jeder in der Gemeinde sich und seine Gabe in den Dienst der Anderen stellt, dann entsteht ein Kreislauf der Liebe, der erlöst und befreit und  zu einem glücklichen Leben führt. Was Paulus hier beschreibt, ist ein Gegenbild zum Kampf aller gegen alle, der dann entsteht, wenn jeder nur sich selbst groß zu machen versucht. Offensichtlich lohnt es sich doch, was die Kirche Jesu Christi zu bieten hat!

(1 Kor 12, 7)

 

 „Denn wie der Leib eine Einheit ist, doch viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes aber, obgleich es viele sind, einen einzigen Leib bilden: so ist es auch mit Christus. Durch den einen Geist wurden wir in der Taufe alle in einen einzigen Leib aufgenommen, Juden und Griechen, Sklaven und Freie, und alle wurden wir mit dem einen Geist getränkt.“ Offensichtlich ist die Taufe doch der eigentliche Vorgang, der die Existenz des Menschen  grundlegend verändert. Woher wir auch kommen und wer wir auch sein mögen – Juden und Griechen, Sklaven und Freie – in der Taufe wurden wir alle durch den einen Geist in einen einzigen Leib, nämlich den Leib Christi, aufgenommen und mit dem einen Geist getränkt. Diese Aussagen dürfen wir nicht als abgehobene Theologie relativieren, sondern sie müssen uns zu einer großen Ehrfurcht und Hochachtung vor dem Handeln Gottes führen! Die Begegnung in der Gemeinde ist der Lebensvollzug Jesu Christi! Hier wird auch noch einmal deutlich, was Paulus am Anfang des Kapitels meinte: „Und keiner kann sagen: Jesus ist der Herr, wenn er nicht aus dem Heiligen Geist redet.“ 

(1 Kor 12, 12f)

 

Im Zusammenhang des Konflikts in Korinth ist Paulus wichtig, dass keiner „aussortiert“ wird.

„Der Leib besteht nicht nur aus einem Glied, sondern aus vielen Gliedern.“ Und die Vielzahl der Glieder und die Vielfalt der Gaben ist für das Leben der Gemeinde unverzichtbar. Trotzdem geschieht es oft, dass die vorhandenen Gaben nicht geweckt, gepflegt und zusammengetragen werden. Und das hat zwei fast gegensätzliche Gründe, die Paulus am Bild vom Leib verdeutlicht. Einmal besteht die Gefahr darin, dass Menschen sich nicht trauen, ihre Gaben ins Spiel zu bringen. Immer wieder taucht die Entschuldigung auf, man könne das doch nicht, irgendjemand anders (meist der Hauptamtliche) könne das doch viel besser. Damit ist man in Gefahr, sich aus der Lebensgemeinschaft (des Leibes Christi) zu verabschieden. Und Paulus sagt: „Wenn der Fuß sagt: Ich bin keine Hand, ich gehöre nicht zum Leib!, so gehört er doch zum Leib.“ (Vers 15f). Die andere Gefahr ist, dass jemand sich für besser hält und meint, die andern mit ihren Gaben nicht zu brauchen. Und Paulus sagt, dass dürfe nicht sein. „Das Auge kann nicht zur Hand sagen: Ich bin nicht auf dich angewiesen. Der Kopf kann nicht zu den Füßen sagen: Ich brauche euch nicht.“ (Vers 21). „So aber gibt es viele Glieder, und doch nur einen Leib.“ (Vers 20).

Dazu ein kleines Erlebnis aus der Kommunionvorbereitung in Hochdahl in späten Jahren. Für die Kinder gab es sonntags in ihrer Messe eine kleine Katechese zu einem Element im Vollzug des Gottesdienstes. Dafür war normalerweise eine Mutter zuständig. An einem Sonntag erzählte mir eine der Mütter, sie habe am Sonntag davor diese Aufgabe übernommen. Und sie hätte große Angst gehabt, weil sie sich das eigentlich nicht zugetraut habe. Dann habe sie es trotzdem gewagt. Und sie war ganz begeistert und froh: sie hatte es geschafft! – Sie hatte eine Gabe entdeckt, von der sie vorher nichts wusste!

(1 Kor 12, 14 – 21) 

 

Wahrscheinlich haben wir in Hochdahl mit diesem Bild auch nicht genügend ernst gemacht. Aber etwas davon haben wir doch zu verwirklichen gesucht. Wir haben an die Menschen geglaubt. Und wir haben feststellen können, welche Fähigkeiten Gemeindemitglieder bei der Organisation der Erstkommunionvorbereitung, bei der Katechese, bei der Begleitung und Vorbereitung von Katecheten, bei der Predigt und bei der musikalischen Verkündigung der Botschaft usw. entwickelt haben. Und wir konnten die Hoffnung haben, dass eine Gemeinde auch dann nicht untergehen würde, wenn der Mangel an Menschen, die sich ganz in den Dienst der Gemeinde stellen, noch größer würde. Das setzt allerdings die Weckung und Pflege der Gaben des Geistes voraus und eine Menge Arbeit, damit eine Gemeinde einen Lernprozess durchmacht – im Laufe von vielen Jahren.

Paulus hatte es im Vergleich zu uns heute gut. Er musste zwar „Missstände bei der Feier des Herrenmahles“ abstellen und in dem vorliegenden Fall einen Konflikt in der Gemeinde analysieren und klären, aber er konnte davon ausgehen, dass in Korinth unter den Bekehrten „etwas los“ war. Ohne die Situation damals zu glorifizieren, darf man wohl annehmen, dass Hoffnungslosigkeit und Jammern in Korinth nicht die typische Mentalität war.

 

Wer wissen möchte, wie Paulus den Konflikt konkret gelöst hat, möge den Text bis zum Ende des 14. Kapitels  lesen.

 

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