12. Suchen und fragen

Die neue Gruppe der Seminaristen, die im Sommer 1961 das Kölner Priesterseminar bezog, war klein. Es handelte sich um ein „Zwischensemester“ mit vorgesehenem Weihetermin im Sommer 1963. Es waren neun Theologiestudenten, die alle von der Bonner Universität kamen. Im Priesterseminar ging der Studienbetrieb normal weiter, wenn auch gegenüber der Universität reduziert. Daneben spielte die Vorbereitung auf den eigentlichen Dienst in der Gemeinde mit dem Einüben in Liturgie, Predigt und Sakramentenvollzug eine wichtige Rolle.

 

Unser Semester war klein und viele waren schon seit Jahren miteinander bekannt. Es stellte sich schnell ein gutes Vertrauensverhältnis ein. Das äußerte sich zum Beispiel darin, dass wir uns neben den offiziellen „Lehrveranstaltungen“ auch privat mit den Fragen nach unserer zukünftigen Tätigkeit beschäftigten.  Ein Kreis fand sich zusammen, der in Theorie und Praxis zu lernen versuchte, wie das mit dem Predigen geht. Dabei waren mehrmalige Treffen mit der Journalistin Vilma Sturm, die damals in Köln lebte, sehr hilfreich. Ein anderer Kreis übte die Praxis des „geistlichen Gesprächs“ ein.  Dieser Kreis traf sich – wie regelmäßig auch immer – sonntags nachmittags in einem Raum des Seminars und wurde für mein seelsorgliches Konzept prägend.

 

Bei einem der ersten Treffen suchten wir nach einem Motto für unsere gemeinsamen Bemühungen. Von Michael Marmann – der später zu Schönstatt gegangen ist – kam der Vorschlag: Wir sind das Geschlecht derer, die Gott suchen. Das ist wohl ein Bibelzitat, dessen Fundort ich aber bis heute nicht festgestellt habe. Aber das verhakte sich: Gott suchen! Wir sind also auch als Studierte und Geweihte nicht Leute, die „die Wahrheit in der Tasche haben“, sondern wir sind nach wie vor Suchende!

 

Bei einem Treffen dieser Gruppe war ich für die Vorbereitung zuständig und das Thema war: Die Mentalität des mitbrüderlichen Gesprächs. Die Überlegungen und Erkenntnisse zu diesem Thema haben meine Vorstellungen und die Praxis des Gesprächs für die nächsten 50 Jahre entscheidend bestimmt! Beim Versuch, diese Mentalität zu beschreiben, wird es nicht vermeidbar sein, dass sich die ursprünglichen Einsichten mit den Erfahrungen der langjährigen Praxis vermischen. Aber es geht ja auch nicht um historische Quellenforschung.

 

Gesprächsformen sind sehr zahlreich. Hier geht es nicht um Diskussionen, nicht um Versuche eine Lösung durchzusetzen, nicht um Manipulationsversuche, nicht um politische Auseinandersetzungen, nicht um Wettkämpfe, nicht um Ratespiele, nicht um Small-Talk oder Talk-Show. Es geht weder um eine Sitzung noch um ein Seminar.

 

„Gespräch“ ist ja nun zweifelsfrei eine Ableitung von „Sprechen“. Aber das Charakteristische dieser Mentalität ist nicht Sprechen, sondern Hören! Jeder Teilnehmer muss versuchen, dem jeweils Sprechenden zuzuhören. Und das nicht äußerlich, sondern mit dem Wunsch, den Andern zu verstehen. Wer etwas nicht wirklich versteht, darf und sollte nachfragen. Aber  dieses Fragen darf nicht die Absicht haben, per Trick den Sprechenden auf eine andere Fährte zu bringen, sondern es muss wirklich der Wunsch nach Verstehen dahinter stehen. Der nächste Schritt ist, dass jeder versucht, bei den verschiedenen Meinungsäußerungen den Gang des Gesprächs zu erkennen. Das setzt natürlich voraus, dass eine Äußerung jeweils an die vorhergehende anknüpft und ein Roter Faden zu erkennen ist. Das bedeutet gleichzeitig, dass in dem Gespräch ein gedanklicher Fortschritt feststellbar ist. Wenn ich während der Entwicklung des Gesprächs auch auf mich selbst höre und meinen eigenen Gedanken erkenne, kann ich feststellen, an welcher Stelle er in den Ablauf passt und wann ich ihn beitragen sollte. Man sollte in einem solchen Ablauf nicht ängstlich darauf bedacht sein, „dass jeder auch zu Wort kommt“.  Es kann nämlich durchaus sein, dass bei einem bestimmten Thema der eine mehr beizutragen hat als ein anderer. Und wenn die Atmosphäre stimmt und die nötige Gelassenheit herrscht, wird keiner das Gefühl haben zu kurz zu kommen. Der Maßstab ist der Fortschritt in der Erkenntnis. Die Wahrheit soll sich entfalten können. Und diejenigen, die wegen des Themas oder wegen augenblicklicher Erkenntnis am besten dazu führen können, sollen die Führung auch übernehmen. Während dieses Gesprächs wird es keine Leitung von außen geben. Die Leitung übernimmt – wechselnd – jeder, der etwas Weiterführendes zu sagen hat. (Eine äußere Leitung ist allerdings nötig für die Vorbereitung, für das Einhalten der Spielregeln – zum Beispiel, wenn einer anfängt zu diskutieren – und   vielleicht hier und da für eine stützende Frage/Aussage zur Weiterführung.) Wenn ein solches Gespräch gelingt und wenn eine weiterführende Erkenntnis sich einstellt, dann kann es durchaus sein, dass sich ein Gefühl von Dankbarkeit und Freude einstellt. Ich erinnere mich, dass ich häufig – oft sogar im Schulunterricht – mit Überraschung und Freude ausgerufen habe: „Das habe ich so ja noch nie gesehen“. Eine neue Facette der Wahrheit – immer wieder neu – und „suchen und fragen“ wird nie langweilig! Und dann liegt auch der nächste Schritt nahe, in einem solchen gemeinsamen Erkenntnisprozess das Wirken des Gottesgeistes zu vermuten und anzuerkennen, denn er ist schließlich der Gemeinschaft der Glaubenden verheißen und geschenkt. Allerdings ist an dieser Stelle äußerste Vorsicht geboten, denn der Geist ist nie dingfest zu machen!

 

„Keiner kann die Wahrheit in der Tasche haben.“ Das ist schon rein erkenntnistheoretisch leicht aufzuzeigen. Die Wahrheit ist mir vorgegeben und immer größer als ich. Wenn man will, dann ist die Wahrheit letztlich ein Geheimnis. Ich werde zum Beispiel einen anderen Menschen nie ganz verstehen können. Und wer Gott ist und wie ich ihm dienen kann, ist mit noch größerer Sicherheit letztlich unbegreiflich. Ich kann natürlich eine gewisse Facette der Wahrheit erkennen, in einer bestimmten Situation ein Stück einer Eigenschaft eines Anderen begreifen, aber bei der nächsten Gelegenheit erlebe ich überrascht, dass er ganz anders ist als ich meinte. Meine Erkenntnis ist dem dauernden Wandel unterworfen. Ein beliebter Spruch im erwähnten Jugendausschuss war: „Was interessiert mich mein dummes Gerede von vorige Woche!“ Und das hieß nicht, dass ich nicht bereit und fähig war, zu meinem Wort zu stehen, sondern dass mein Gesprächspartner damit rechnen muss, dass sich Erkenntnis in einem dauernden Fortschritt befindet. – Und warum diskutieren Menschen so gerne miteinander und versuchen den anderen dauernd davon zu überzeugen, dass er sich irrt? Was dem Vorgang zugrunde liegt, ist doch die Tatsache, dass es nicht  nur eine Facette der Wahrheit gibt, die für alle gleich ist. Es ist möglich, dass fünf Leute diskutieren und dass alle fünf recht haben, weil jeder einen Teil der Wahrheit sieht und im Gespräch vertritt. Sie sollten dann nur nicht die eigene Perspektive für die einzig mögliche halten, sondern versuchen, die verschiedenen Aspekte (!) zusammenzutragen. 

 

Und wer eine solche Gemeinde leitet, muss auch hier, bei der Suche nach der Wahrheit, seiner Gemeinde im Glauben vorangehen (vgl.Nr.11). Er sollte besonders intensiv suchen und mehr Fragen haben als in der Gemeinde auftauchen. Wenn er davon ausgeht, er wüsste doch Bescheid, dann wird‘s gefährlich. Denn dafür kann weder eine gute theologische Ausbildung noch eine gereifte Lebenserfahrung garantieren. Man muss immer damit rechnen, dass die Erkenntnis eines Einzelnen sehr begrenzt ist. Und daran ändert sich auch durch die Weihe nichts. Denn sie eröffnet keinen neuen Erkenntnisweg, sodass man deshalb Zugang zu einer Erkenntnis hätte, die dem normalen Menschen verschlossen ist. – Das wäre so wie bei dem Witz mit dem Mitarbeiter von IBM, der einem Gast ein Telefon zeigt, bei dem man mit dem Himmel telefonieren kann. Auf den staunenden Einwurf des Gastes, das sei doch sicher sehr teuer, antwortet der Mann von IBM: „Überhaupt nicht! Hausanschluss!“ – Die Weihe ist eine Zusage Gottes und Jesu Christi, eine Verheißung. Man sollte sie vor jeder magischen Überhöhung bewahren! Umso wichtiger wäre es dann doch, eine Gesprächsform zu trainieren, in der man sich nicht selbst aufgibt, die Gesprächspartner nicht gering achtet und sich gemeinsam öffnet für die Wahrheit.  

 

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