62. Die Hospizidee und wie sie in Hochdahl Fuß fasste

Anfang 1988; eine kleine Notiz in einer Wochenzeitschrift macht mich auf das Hospiz in Recklinghausen aufmerksam. Die Notiz weckt in mir Erinnerungen und Bilder: Anfang der achtziger Jahre habe ich im Religionsunterricht am Hochdahler Gymnasium „Sterben und Tod“ mit den Schülerinnen und Schülern der Oberstufe thematisiert. Der Film, den ich zeigte, erzählte die Geschichte einer krebskranken Frau, die mit großer Energie ihr Leben lebte – bis zuletzt.

Ein anderer Film stellt ein Hospiz in England vor. Ich weiß noch, wie die Schüler und ich selbst beeindruckt waren von der Atmosphäre in diesem Haus. – Ich erinnere mich an das Sterben meiner Eltern, beide allein in ihrer letzten Stunde. Und jetzt die Notiz über das Hospiz in Recklinghausen. Und der Gedanke: Wenn in Recklinghausen so etwas geht, vielleicht ist das auch hier in Hochdahl möglich? Ich erzähle meine Gedanken in unserem Seelsorgeteam der Franziskus-Gemeinde- und ich stoße auf Resonanz. Noch vor den Sommerferien fahren wir, Ralf Jachmann, Bernd Staßen, Hildegard Smoch und ich nach Recklinghausen. Und wir sind tief beeindruckt von dem, was wir da hören und sehen.

In Hochdahl erzählen wir davon, im „Haus der Kirchen“, im ökumenischen Konveniat, in der Gemeinde. Erstaunlich, wir stoßen überall auf hellwache Ohren. Viele haben Erfahrung mit dem Sterben von Angehörigen und Freunden gemacht. Sie erkennen, dass es so, wie man es fast überall macht und oft erlebt, nicht wirklich gut ist. – Der Gedanke „Hospiz in Hochdahl“ fällt auf fruchtbaren Boden. Ganz viel gerät in Bewegung.

Im August 1988 bin ich in der Toskana. An einem Tag fahre ich mit dem Zug nach Assisi. – Die Entscheidung für das Recklinghauser Hospiz ist in dieser Stadt gefallen. Plötzlich packt mich, auf dem Marktplatz von Assisi, wieder der Gedanke: ein Hospiz im Sinne des heiligen Franziskus – in Hochdahl! Aber sofort setzen sich Bedenken dagegen: Werden wir denn die Kraft haben, den Gedanken in die Tat umzusetzen?

Im Oktober 1988 verabschieden sich die Arenberger Dominikanerinnen nach 85 Jahren von Hochdahl. Das Kloster „Maria Hilf“ an der Hildener Straße (heute Trills) steht leer. Ob dieses Haus für „unser Hospiz“ geeignet wäre? Im Gespräch mit der Ordensleitung wird mir klar, dass die Schwestern der Idee eher fremd gegenüber stehen. Und: Die Kaufsumme für das Haus könnten wir niemals aufbringen. Bei einem Treffen mit Studienkollegen stoße ich auf den Anfang des Hospizes in Lohmar. Sybille Brombach, die mit ihrem Mann die dortige Arbeit begonnen hat, sagt: „Bei der Begleitung sterbender Menschen sind mir Flügel gewachsen.“

 

Wir bestehen auf einer ökumenischen Grundlage. „Wohnzimmergespräche“ bei mir: Wie kommen wir an Geld? „Wie kann die Idee Wirklichkeit werden?“

Gespräche mit den Maltesern, mit dem Caritasverband, mit der Diakonie. „Geld? Ja, das wäre schon aufzubringen. Aber eine ökumenische Trägerschaft? Da müssen Sie sich schon entscheiden!“ Auf einer Fahrt in eine Familienfreizeit in Rinsecke im Sauerland kommen mir die Franziskanerinnen von Waldbreitbach in den Sinn. Noch in der Nacht schreibe ich an die Ordensleitung. Und wenige Tage später, am 11. November 1988, die Antwort von Schwester Basina: „Seit einiger Zeit beschäftigen wir uns mit der Hospizidee. Wir sind an einer Mitarbeit in Hochdahl interessiert.“

An einem Wochenende danach ist der Pfarrgemeinderat von Hochdahl in Klausur. Das Thema: „Beim Sterben nicht allein sein.“ Wenige Tage später eine offene Einladung in den Pfarrsaal von Heilig Geist: Rund 100 Menschen sind da, evangelische und katholische Christen, aber auch viele andere, die der Kirche eher fern stehen. Ralf Jachmann führt uns an das Thema heran. Viele erzählen sehr persönlich von ihren Erfahrungen mit Sterben und Tod. Die Idee fasst Fuß.

Am 9. Januar, kurz nach 13Uhr ruft Schwester Emmanuela aus Waldbreitbach an: „Wir machen mit!“ Ist das der Durchbruch?

 

„Ein Verein muss gegründet werden. Auf breiter, ökumenischer Basis!“ – Am 27. Januar 1989 ist es soweit: Mehr als 140 Leute sind da, 114 von ihnen werden Mitglieder des Franziskus-Hospiz-Vereins.

Wir bieten einen Kurs in häuslicher Krankenpflege an. Menschen bereiten sich vor, am Kranken-, vielleicht am Sterbebett „Sitzwache“ zu halten. Eine Gruppe kümmert sich um die Finanzen. Andere übernehmen die Schreibarbeit, ein großer Stamm von Ehrenamtlichen kommt zusammen.

Ende 1989 findet das erste „Sterbe-Seminar“ in Langwaden statt. Die Teilnehmer gewinnen Mut, weiterzugehen und andere auf dem Weg mitzunehmen.

Aber es gibt auch Gegenwind, manchmal heftig und schmerzhaft. Immer, wenn wir ein Privathaus erwerben wollen, entstehen erregte Diskussionen in der Stadt, unter den Anwohnern. „Die Idee ist ja gut. Aber doch bitte nicht in unserer Nähe!“ Unterschriften dagegen werden gesammelt, Leserbriefe geschrieben, die Presse, das Fernsehen eingeschaltet.

Doch der Gegenwind verstärkt auch unser Engagement. Die Zahl der Vereinsmitglieder steigt kontinuierlich. Und am 20. Oktober 1989 ziehen vier Franziskanerinnen ein in die Sandheider Straße 36. Sie lassen sich auf die Idee ein, ohne schon genau zu wissen, wie es gehen, ob es auch gelingen wird. Sie tragen mit uns das Risiko.

Anfang 1990 nimmt der „Hausbetreuungsdienst“ seine Arbeit auf. Grund- und Aufbaukurse werden durchgeführt. Viele üben sich ein ins Leben und ins Sterben.

Aber auch Ängste kommen auf: Wird der Bau eines stationären Hospizes nicht doch unsere Kräfte übersteigen? Wird die „Institutionalisierung“ nicht unsere Idee „verderben“? Auch die Schwestern sind verunsichert. Es gibt eine stürmische Mitgliederversammlung. Zwei Vorstandsmitglieder treten zurück. Dringend werden die Schwestern gebeten, doch weiter mitzumachen. Unsere ökumenische Ausrichtung bleibt garantiert.

 

Auch in Zukunft soll und muss die Begleitung der Schwerstkranken zu Hause das Wichtigste sein. Das Haus, das jetzt gebaut werden soll, ist ein Angebot für die, die allein sind, die zu Hause nicht mehr angemessen versorgt werden können. Im August 1991 können wir das Grundstück am Bayerpark in Trills kaufen. Damit hat die Bewegung auch einen „Boden“ unter den Füßen. Er bleibt schwankend und erweist sich doch als tragfähig.

Ende 1990 wird dann der Kooperationsvertrag zwischen dem Franziskus-Hospiz-Verein e.V. und den Waldbreitbacher Franziskanerinnen verabschiedet, im Februar 1991 ein neuer Vorstand des Vereins gewählt. Die Ökumene wird gefestigt durch je ein Mitglied der katholischen und der evangelischen Gemeinde im Vorstand des Vereins.

 

Die Hochdahler Architekten Franz Josef Klother und Friedhelm Sieben werden mit der Planung des Baus beauftragt. Zusammen mit der Geschäftsführerin Schwester Irmgardis und Mitarbeitern entwickeln sie die Gestaltung und Einrichtung des Hauses. Ralf Jachmann und Christoph Bremekamp laden Interessierte zu den ersten Grund- und Aufbauseminaren ein. Der 1. Hochdahler Hospiztag trägt die Idee weiter in eine breite Öffentlichkeit. 1992 betreuen schon die ersten „Ehrenamtlichen“ zusammen mit einigen „Hauptamtlichen“ Schwerstkranke und Sterbende in deren Wohnungen.

Endlich: Im Februar 1992 wird der Bau des Hospizes dann genehmigt.

Als Bundesmodellprojekt wird er durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Minister Norbert Blüm, finanziell großzügig gefördert, so wie auch die zur gleichen Zeit entstehenden Hospize in Halle und Lohmar. Am 15. Dezember 1992, der erste Spatenstich. Am 25. Juni 1993 die Grundsteinlegung durch Minister Norbert Blüm.

Die Hospiztage und die Hospizgespräche erreichen immer mehr Interessierte aus Hochdahl und Umgebung. 1994 sind schon 94 „Ehrenamtliche“ in den verschiedenen Bereichen der Hospizarbeit tätig: Telefonkette, Tageshospiz, Öffentlichkeitsarbeit, Baukomitee. Eine ungeheure Bewegung!

 

Am 17. März 1994 dann das Richtfest.

 

Am 26. November 1994 kommen in der Erkrather Stadthalle mehr als 500 Menschen zusammen unter dem Leitwort: „Nicht auszuhalten – dem Schmerz begegnen“. Schwester Liliane Juchli aus der Schweiz hält einen bewegenden Vortrag über die ganzheitliche Begleitung Schwerstkranker und Otto Zsok aus Fürstenfeldbruck spricht über den Schmerz und seinen Sinn.

 

Am 9. Mai 1995 wird das Franziskus-Hospiz-Zentrum eröffnet.

Da ging etwas in Erfüllung, was jahrelang viel Kraft und Anstrengung gekostet hatte.

Bis zum Vorabend hatte kaum jemand damit gerechnet, dass die Arbeiten im Haus rechtzeitig geschafft würden. Aber: es gelang! Über Nacht!

Die Franziskuskirche Trills war voll, als die Feier eröffnet wurde. Pfarrer Heinrich Pera aus Halle sagte einen Satz, der sich eingegraben hat: „Träume werden wahr, wenn Mensch und Gottes Herz sich begegnen“. Schwester Liliane Juchli aus der Schweiz hielt den Festvortrag. „Dem Sterben ein Zuhause geben“. Ich erinnere mich, dass ihre Gedanken immer wieder um den Mittelpunkt des neuen Hospizes kreisten, um den Innenhof mit seinem Brunnen, mit dem lebendigen Wasser, das sich in alle vier Himmelsrichtungen verströmt, Wasser des Heils, für alle, die damit in Berührung kommen. Besonders bewegt hat mich in dieser Feier, was eine Patientin aus Wülfrath, im Rollstuhl sitzend, gezeichnet von ihrer tödlichen Krankheit, in das Mikrophon sprach: wie sie durch die Hospiz-Begleitung es geschafft hat, ihr Sterben als Teil des Lebens anzunehmen.

Nach der Feier in der Kirche strömten wir in das neue Haus, füllten den Innenhof, rund um den Brunnen. Mit einer Lesung aus dem Propheten Ezechiel (Kap. 47 in einer Nachdichtung von Wilhelm Willms) und dem Wasser des Brunnens durfte ich mit Pfarrer Müller aus der evangelischen Gemeinde den Segen Gottes zusichern, dem Haus, den Menschen, die dort leben und wirken, den vielen, die die Idee und die Arbeit des Franziskus-Hospizes mittragen.

Für viele Besucher war das der erste Blick in das neue Haus. Und das Erstaunen war groß: „Schön! Ein Hauch von Luxus – die Zimmer, die Ausstattung, der Innenhof!“ Zu schön? Zu kostbar? 1443 entstand in Beaune/Burgund ein Hospiz, „Hótel Dieu“, Haus Gottes, genannt; ein „Palast für die Armen“, sagten die Leute über das für die damaligen Verhältnisse überaus luxuriöse Haus. Ich bin froh, dass das Franziskus-Hospiz so ist, wie es ist. Eine Bewohnerin, die ich dort kennen lernte, sagte mir: „ Ich bin jetzt sieben Tage hier und es waren sieben Sonntage!“

 

Sterben ist ein Teil des Lebens – viele haben das in den Jahren ver-inner-licht. Das Hospiz brachte einen Umbruch im Denken und Fühlen vieler Menschen. Es ist so zu einem „Stein des An-Stoßes“ geworden.

 

Nichts ist realistischer als eine starke Vision!

                                                                                                          Gerd Verhoeven

 

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