60. Wohlwollende Vertrautheit

Eine der intensivsten Erinnerungen an die Arbeit mit den Firmbegleitern ist mit einer Einheit zum Thema „Jesus Christus“ verbunden. Gegenstand war die Szene im Garten Gethsemani. Wir sahen dazu den entsprechenden Teil aus dem Film „Jesus Christ Superstar“. Wir hatten mit dem Jugendchor dieses Stück Anfang der 90-er Jahre gesungen und gespielt, sodass Inhalt und Interpretation den Begleitern durchweg vertraut waren. Die Darstellung des Ringens Jesu mit dem Vater ist für mich nach wie vor überzeugend. – Danach versuchten wir uns in zwei getrennten Gruppen in die Situation hineinzuversetzen. Wir waren die Apostel – nicht als Schlafende – mit der Frage, wie wir uns verhalten sollten – Jesus, einen Steinwurf weit von uns entfernt – wir spürten seine Not – konnten wir etwas tun, ihm irgendwie helfen? – hingehen? – wir sprachen miteinander und wir schwiegen miteinander – und wir blieben beieinander – die Distanz zu ihm blieb. - - - Die intensive Empfindung am Ende dieser Gruppe: Hilflosigkeit.

Eine Begegnung mit der Botschaft des Evangeliums! Und die vollzog sich nicht in irgendwelchen frommen „Anmutungen“, sondern sehr realistisch, deutlich im Kontext des eigenen Lebens. Aus einer solchen Konfrontation geht man verändert hervor. Und eine Begegnung mit den übrigen Teilnehmern der Gruppe! Und dabei werden manche Vorbehalte, Absicherungen und Distanzierungen plötzlich unwichtig. Und es ist leicht vorstellbar, dass man sich bei den normalen Begegnungen der nächsten Wochen anders verhält als vorher. Man ist durch die gemeinsame Erfahrung vertrauter miteinander geworden.

Diese Erinnerung tauchte auf, als ich der Frage nachging, wie weit die Firmvorbereitung das Zusammenleben in der Gemeinde beeinflusst hat. Jemand aus dem engeren Kreis der Verantwortlichen hatte nämlich auf eine solche „Langzeitwirkung“ unserer Arbeit hingewiesen. Und dieser Aspekt ist so wichtig, dass es sich lohnt, diesem Hinweis etwas nachzugehen. Bei der Beschreibung von Inhalt, Ziel und Ablauf der Firmvorbereitung (Gemeindekatechese 6) war der Blick nämlich zunächst eingeschränkt darauf fixiert, was und wie wir „vorbereitet“ hatten. Dabei ist schon im Zusammenhang mit Erstkommunion und Buße deutlich formuliert worden, dass es nicht nur um die jedes Jahr wiederkehrende Aufgabe geht, Kinder oder Erwachsene „auf etwas vorzubereiten“. Immer ist der „Gemeindeaufbau“ das eigentliche Ziel. Immer soll die Gemeinde als ganze wachsen im Glauben und in der Erkenntnis, und immer mehr soll sie zu einer Gemeinschaft im Geiste Jesu werden. Und etwas von einer neuen Kirche wird dabei erfahrbar.

Genau so war der „Hinweis“ gemeint, dass die Arbeit in der Firmvorbereitung die Gemeinde geprägt habe. Und so sah das konkret aus: Wenn man sich in der Gruppe über das eigene Leben und den eigenen Glauben austauscht, dann kommt es immer wieder zu intensiven Begegnungen. Deshalb entwickelten sich Kontakte aus den Firmgruppen oft zu sehr beständigen Freundschaften. Und die Bemühungen in der Runde der Begleiter webten in der Gemeinde ein Netz zwischen Menschen, die sich intensiv mit dem Glauben beschäftigt hatten. Wer es in der Firmbegleitung trainiert hatte, konnte sich auch an anderer Stelle über seine Glaubenserfahrung offen austauschen – in der Vorbereitung eines Gottesdienstes, im Familienkreis, in der Bibelwoche, in der Predigtvorbereitung, in der Begleiterrunde für die Kommunionkinder oder im Jugendchor. Dadurch war es für viele Gemeindemitglieder nicht mehr ungewohnt oder sogar verdächtig, wenn in Begegnungen und Treffen der gemeinsame Glaube Gegenstand des Gesprächs wurde. Durch den wiederholten Austausch entstand in der Gemeinde eine breite Basis von Glaubenswissen und Glaubenserfahrung. Und auch theologische Erkenntnisse waren dabei im Spiel, wenn sie durch die Bewährung eines gläubigen Lebens gegangen waren.

Für das Wachsen der Glaubenssubstanz ist es wichtig, dass möglichst viele Gemeindemitglieder an einem solchen Prozess teilnehmen können. In der Firmvorbereitung gab es von Anfang an die Regel, dass jemand nicht öfter als drei Mal hintereinander Begleiter sein durfte. Dann musste er eine Pause einlegen bis zu einem neuen Einsatz. Das sollte verhindern, dass sich eine falsche Routine einstellte. Es hatte aber sicher auch damit zu tun, dass wir in Hochdahl nie „Katecheten“ hatten, die für die Vorbereitung von Kommunion, Buße oder Firmung auf Dauer zuständig waren. In vielen Gemeinden ist diese Praxis die Norm und wo sie einmal etabliert ist, kann man sie kaum mehr verändern. Dann sind aber andere Gemeindemitglieder scheinbar nicht mehr nötig und sie haben keine Chance, ihre vielleicht genauso vorhandenen Fähigkeiten zu entwickeln. Für die Gemeinde bedeutet es, dass das Wachsen der Glaubenssubstanz willkürlich eingeschränkt wird.

Es entwickelte sich eine breit gestreute wohlwollende Vertrautheit. Und diese Vertrautheit hatte auch zur Folge, dass man sich gegenseitig unkompliziert half, entweder im Gespräch zur Bewältigung von Fragen, Unsicherheiten und Ängsten oder in tatkräftiger Unterstützung bei Alter und Krankheit. Dieses Wohlwollen und diese Vertrautheit waren kein Ergebnis von „guten Vorsätzen“ oder einer eingeübten „Verhaltenskultur“. Sie waren als solche in der Arbeit auch nicht das Ziel. Und diejenigen, die im Nachhinein dieses veränderte Zueinander registriert haben, waren verwundert und fühlten sich beschenkt. Ist es da vielleicht erlaubt, in dieser „breit gestreuten wohlwollenden Vertrautheit“ die Verheißung des Glaubens ein wenig erfüllt zu sehen und dahinter etwas von einem anderen, in Freiheit wirkenden Geist zu erleben? Das lässt sich selbstverständlich nicht beweisen. Jeder Versuch, ein „Wirken von oben“ dingfest zu machen, greift daneben. Aber wir dürfen doch die Zuversicht haben, dass es ein solches Wirken gibt.    

Als wir vor kurzem auf diese Erfahrungen zurückblickten, waren wir verwundert und erfreut. Im Gespräch stellten sich aber sofort wieder Unsicherheit und Zweifel ein. Denn wie viele Menschen werden auf diesem Weg zueinander gefunden haben? Immerhin war die Zahl derer, die Firmbegleitung gemacht haben, begrenzt. Erst ganz allmählich wurde klar, dass es richtig ist, sich über solche Erfahrungen zu freuen, und dass die Frage nach der Zahl unberechtigt, wenn nicht sogar ein Zeichen von Unglaube ist. Wer nach der Zahl oder der Größe der Gruppe fragt, tut vielleicht etwas Ähnliches wie David, als er den Auftrag gab, das Volk zu zählen (2 Sam 24). Immer wieder hat mich die Frage beschäftigt, was an dieser Volkszählung so schlimm und warum die Strafe so ungeheuer war. Vielleicht kann man die Antwort in der Aussage des Joab finden, der sich zunächst dem Ansinnen Davids widersetzt: „Der Herr, dein Gott, möge das Volk vermehren, hundertmal mehr als es jetzt ist, und mein Herr und König möge es mit eigenen Augen sehen.“ Israel ist das Volk Jahwes und sein Leben und sein Wachstum ist eine Sache Gottes. David aber will es selbst wissen. Wenn er die Zahl der Krieger kennt, dann kann er für die Rettung und für die Sicherheit des Volkes einstehen.

Vielleicht sind die dauernden Statistiken und soziologischen Analysen zum Leben der Kirche gar nicht so heilsam. „Gottesdienstbesuch unter 10 %“ oder „Viele Christen glauben nicht mehr an die Auferstehung“ usw. Die übliche Folgerung lautet: die Kirche muss sich etwas einfallen lassen, wenn sie nicht untergehen will. Und die angefragten Betriebsberater haben viel gute Ratschläge parat: Anpassen der Strukturen, bessere Organisation, effektivere Verwendung der Ressourcen, gezielter Einsatz der finanziellen Mittel, gekonnter Auftritt in der Öffentlichkeit usw. Und wem das Schicksal der Kirche am Herzen liegt, ist dann in der großen Gefahr, die Rettung von seinem eigenen Einsatz und seiner Arbeit abhängig zu machen. Das kann dazu führen, dass man sich dauernd überfordert fühlt. Vielleicht liegt da die Ursache für die müde Resignation, die man vielfach feststellen kann. Ist es verwunderlich, dass das Volk Pestbeulen bekommt, wenn es so zur Verfügungsmasse von „Entscheidungsträgern“ wird? (2 Sam 24,15).

Gott kümmert sich um das Schicksal seines Volkes. Was ist dann aber unsere Aufgabe? Die Antwort kann man in dem Gleichnis von der selbstwachsenden Saat finden (Mk 4, 26 – 29). Unsere Sache, die Sache der Glaubenden ist es, zu säen und zwar nicht irgendwelche schönen oder klugen Geschichten, sondern die Saat des Glaubens. Wir müssen uns bemühen um eine gute Firmvorbereitung und den Aufbau der Gemeinde. „Und der Sämann schläft und steht wieder auf, es wird Nacht und wird Tag, der Samen keimt und wächst, und der Mann weiß nicht wie. Die Erde bringt von selbst ihre Frucht.“ Wenn wir unsere Sache tun, dann dürfen wir auch auf die Kraft vertrauen, die im Samen steckt. Und wir dürfen staunend registrieren, wenn so etwas wie ein Wunder geschieht und sich Vertrauen und Hoffnung und Zuneigung zeigen. Wir sind nicht dafür zuständig, das Wunder zu produzieren. Wunder liegen bekanntlich außerhalb der menschlichen Möglichkeiten. Sich bescheiden, aber tun, was unsere Sache ist! Das wird schön, aber auch etwas massiv, in einer Stelle bei Lukas formuliert: „Wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen wurde, sollt ihr sagen: Wir sind unnütze Sklaven, wir haben nur unsere Schuldigkeit getan.“ (Lk 17, 7 – 10).

Mit der Firmvorbereitung haben wir uns in Hochdahl viel Mühe gegeben. Und das war notwendig. Wenn das dazu geführt hat, dass sich zwischen Menschen (wie viel oder wenig es auch gewesen sein mögen) eine „wohlwollende Vertrautheit“ entwickelt, dann dürfen wir das registrieren und uns über dieses Geschenk freuen. Und wo ein solches Wunder auch sonst in der Gemeinde erkennbar wird, ist die gleiche Freude und Dankbarkeit am Platz. Die Auseinandersetzung mit dem Glauben war an vielen Stellen möglich und manchmal haben sich diese Bemühungen gegenseitig befruchtet und angeregt. Damit haben wir – um es noch einmal zu sagen – keinen Anspruch auf eine Erfahrung des Reiches Gottes begründet. Aber wir dürfen Vertrauen haben und uns über alle Lichtpunkte, die in der Gemeinde auftauchen, freuen. Eine große Gefahr ist seit einigen Jahren, dass wir mit solcher Dankbarkeit in die Vergangenheit schauen, aber unsere Bemühungen um den Glauben nicht mehr (intensiv genug) weiterführen.   

 

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