53. Wie hilft man sich bei Priestermangel?

1983 wurde Gerd Verhoeven krank und musste für mehrere Wochen ins Krankenhaus nach Haan. Abgesehen von der menschlichen Belastung, die eine solche Krankheit immer mit sich bringt, war diese Situation eine ernste Herausforderung für das Leben der Gemeinde. Das wurde besonders sichtbar an den Sonntagen. Bei sieben Gottesdiensten am Wochenende war es für die in Hochdahl verbliebenen Geistlichen nicht möglich, alle Aufgaben zu übernehmen. Bei allen Überlegungen, die wir zur Lösung dieser konkreten Lage angestellt haben, hatten wir immer im Blick, dass wegen des fortschreitenden Priestermangels solche Bedingungen einmal Dauerzustand werden würden. Die Krankheit von Gerd Verhoeven bescherte uns gewissermaßen eine Trainingssituation.

 

Auch früher kam es natürlich vor, dass Priester krank wurden. Bei der Fülle von vorhandenen Zelebranten war das normalerweise kein Problem für die Dienste in der Pfarrei. Der zweite oder dritte Kaplan sprang ein und füllte die Lücke aus. War am Ort niemand dafür vorhanden, dann gab es in der näheren Umgebung  meist ein Kloster, wo man um eine Aushilfe bitten konnte. Seit wir in Hochdahl waren, hatten wir auch hin und wieder versucht, Hilfe von auswärts in Anspruch zu nehmen. Manchmal hatten uns dann auch Patres aus Düsseldorf geholfen. Wenn ich es richtig sehe, wurde diese Möglichkeit aber in den 80-er Jahren insgesamt immer geringer. In unserer Situation konnte das aber auch deshalb nicht die Lösung sein, weil wir mit einer längeren Dauer der Abwesenheit von Gerd Verhoeven rechnen mussten.

Unsere damalige Trainingssituation ist ja inzwischen zur alltäglichen Realität geworden. Es fehlen die Priester. Und landesweit „hilft man sich“, indem man Gemeinden fusioniert und Gottesdienste streicht. Vorgeblich sind die Leute ja alle mobil. Und wenn sie sich zum Einkauf oder zum Kinobesuch ins Auto setzen, können sie das doch auch zum Besuch des Gottesdienstes tun. Diese abstruse Argumentation hätten wir damals nicht akzeptiert. Noch einige Jahre später haben wir uns darüber aufgeregt, wie rücksichtslos Geistliche manchmal mit Gottesdienstbesuchern umgehen. Da erzählte nämlich jemand von einer Kirche in Porz, dass die Leute, die zur üblichen Zeit zum Gottesdienst kommen wollten, an der Kirche einen Zettel vorfanden, auf dem geschrieben stand: „Die Messe muss heute ausfallen. Sie können heute Abend noch da und da an einer Messe teilnehmen.“  So etwas wäre uns damals nicht eingefallen. Nur in den Sommerferien fiel einer der sieben Gottesdienste am Wochenende aus.

 

Es hat natürlich immer schon Gottesdienstbesucher gegeben, die sonntags nicht in ihre Kirche am Ort gegangen sind, sondern dahin gefahren sind, wo der Gottesdienst feierlicher oder die Kirchenmusik anspruchsvoller oder die Predigt aufbauender war. Diese Christen werden ihre Praxis vermutlich noch länger beibehalten können. Das Streichen der Gottesdienste trifft die, die „zu Hause in ihre Kirche gegangen sind und miteinander Gemeinde gelebt haben“. Ist das nicht mehr möglich, werden einige von ihnen sich vermutlich zu Fuß oder im Auto dahin aufmachen, wo noch eine Messe stattfindet. Andere bleiben zu Hause und vollziehen vielleicht einen Gottesdienst mit, der im Fernsehen übertragen wird. Und einige werden sich ganz verabschieden. Am massivsten trifft es die Alten, die nicht mehr mobil sind. Die Folgen für die Gemeinde sind zerstörerisch. Wenn sie sich nicht mehr regelmäßig trifft, verliert sie ihren Zusammenhalt; wenn sie nicht mehr zusammen Gottesdienst feiert, zerfällt sie.

 

In der Eifel, wo es ja viele kleine Dörfer gibt, hatte ein weiser Bischof empfohlen, die Leute sollten sich jeden Sonntag zum Gottesdienst in der Kirche versammeln. Und wenn kein Priester da sein könnte, sollten sie wenigstens einen Wortgottesdienst miteinander feiern. So könnten, meine ich, die Gemeinden in der Not überleben, bis entweder wieder mehr Priester da sind oder bis sich die Bedingungen für den Dienst als Vorsteher der Eucharistie ändern. Diese Regelung hat der Nachfolger dieses weisen Bischofs wieder abgeschafft. Und eine Frau von der Mosel erzählte mir vor kurzem, sie hätten nur alle sechs Wochen eine Messe in ihrem Ort. Und an den anderen Sonntagen ist die Kirche verschlossen? Selbst wenn es alle drei Wochen wäre, wie sollte eine Gemeinde unter solchen Vorgaben überleben? Und wenn die Gemeinde untergeht, woher sollen dann die zukünftigen Priester kommen?

 

Am Sonntag nur an einem Wortgottesdienst teilnehmen zu können, fällt vielen Gläubigen schwer. Das wurde in den Gesprächen  in unserer Notsituation 1983 oft deutlich. Ich erinnere mich an ein intensives Gespräch damals mit einer Frau, die aktiv in der Gemeinde mitmachte. Sie konnte sich nicht vorstellen, auf die Messe zu verzichten. Dann würde sie sich doch lieber ins Auto setzen und dahin fahren, wo sie an einer „richtigen Messe“ teilnehmen könnte. Ich konnte sie verstehen. Neben den theologischen Gründen gibt es an dieser Stell auch viele emotionale oder aus der Erziehung stammende innere Bindungen. Und auch das Kirchengebot wirkt sicher nach, das forderte, an jedem Sonntag „eine Messe mit Andacht“ zu hören. Und wenn man das nicht tat, glaubte man schwer zu sündigen. Aber was soll ich machen, wenn die Teilnahme an der Messe nicht mehr eine Frage meines eigenen guten Willens ist, sondern ein Problem der vorhandenen Möglichkeiten oder der Entscheidungen in der Kirche?

 

Wir waren damals der Meinung, dass die Versammlung der Gemeinde oberste Priorität hat, und zwar an einem festen Ort und zu festen Zeiten. Und wenn hier von „Gemeinde“ die Rede ist, ist nicht die Monsterpfarrei von 20.000 Leuten gemeint, sondern eine überschaubare Zahl von Menschen. Was der weise Bischof für die Dörfer der Eifel vorschlug, schien auch uns damals der richtige Weg zu sein. Wir haben deshalb in dieser Zeit keinen der sieben Gottesdienste gestrichen. Eine gewisse Vertrautheit mit Wortgottesdiensten konnten wir allerdings schon voraussetzen. Als wir noch die Hilfe der Düsseldorfer Patres beanspruchten, haben wir schon darüber beraten, ob wir solche Engpässe nicht vor Ort und aus eigener Kraft bewältigen müssten. Werktags haben wir – zum Beispiel in den Sommerferien – auch schon vor 1983 Wortgottesdienste zu den gewohnten Gottesdienstzeiten angeboten. Und dafür gab es auch genug fähige und bereite Leute. Allerdings wächst auch die Bereitschaft sehr schnell, wenn klar ist, dass solche Formen der Liturgie nicht billiger Ersatz oder sogar unerlaubte Eigenmächtigkeit darstellen, sondern eine Bereicherung und ein Zeichen der Lebendigkeit der Gemeinde sind. Und so haben wir in der Zeit der Krankheit von Gerd Verhoeven ziemlich regelmäßig am Sonntag mindestens einen Wortgottesdienst gefeiert, der auch von den Gläubigen angenommen wurde (was natürlich in der Not mit Rücksicht auf den kranken Pfarrer einfacher zu vollziehen ist). Diakon Willi Brähler sah diesen Dienst als besondere Aufgabe an, aber auch andere Gemeindemitglieder haben dabei die Leitung übernommen. Natürlich waren wir froh, als Gerd Verhoeven wieder gesund war und seinen Dienst wieder aufnehmen konnte. 

 

Woher nahmen wir damals unsere Sicherheit, dass dieser Weg der richtige sei? Woher nehmen wir das Recht zu behaupten, dass diese regelmäßige Versammlung der Gemeinde die einzige Hoffnung für die Zukunft der Kirche hier bei uns ist? Allenthalben wird doch die klerikalistische Variante propagiert und praktiziert. – Seit unseren Anfängen in Hochdahl hatten wir immer wieder erlebt, wie fruchtbar es ist, wenn die ganze Kirche, also alle Getauften, die Verantwortung übernehmen für die Weitergabe des Glaubens und das Leben aus dem Geist Jesu Christi. Und diese Erfahrung hat uns Mut gemacht, für die Zukunft der Kirche auf die „Gemeinde“ zu setzen. Sicher hat uns auch geholfen, dass wir die Theologie des Paulus von der Gemeinde als Leib Christi gekannt und geschätzt haben. – Und dann war es wieder Joseph Ratzinger, dieses Mal mit seiner Vorlesung über die Eucharistie im Wintersemester 1960/61 in Bonn. Bei der Beschreibung der Situation von 1983 tauchten nämlich plötzlich einzelne Ausführungen von ihm auf, die sich offensichtlich sehr tief eingeprägt hatten. Die Erinnerung war lebendig und präzise, allerdings ohne den Zusammenhang packen zu können. Das Thema war das „Corpus Christi Mysticum“, der „Mystische Leib Christi“. Heute wird darunter die Kirche verstanden, so auch in der Enzyklika von Pius XII. 1943. Das sei aber erst seit dem Mittelalter so, sagte Ratzinger in seiner Vorlesung. Vorher, also in der Zeit der Alten Kirche, sei mit „mystischem Leib“ die Eucharistie bezeichnet worden, die Kirche habe man als das „Corpus Christi verum“ – den „wahren Leib Christi“ – verstanden. Das heißt dann aber, dass sich in der Gemeinschaft der Kirche, in der Versammlung des Volkes Gottes das Heil vollzieht und dass dabei Jesus Christus real, wirklich und wahr gegenwärtig ist. Und in der Feier des Mahles, im Empfang des „mystischen Leibes Christi“ empfängt der wahre Leib Christi die Nahrung für sein Leben. Im Empfang des „mystischen Leibes Christi“ werden wir immer wieder neu das, was wir sind, der „Leib Christi“. – Diese Vorstellung von der Gemeinschaft der Glaubenden hat allerdings einen sehr hohen Anspruch. Keiner ist mehr Privatperson; seit der Taufe und für alle Zeiten gilt die Gemeinschaft mit Jesus Christus in seinem Geist; wir sind „neue Menschen“, ein „neue Schöpfung“ (2 Kor 5,17); und damit wir zusammen kommen, brauchen wir kein Gebot, wir kennen die Kraftquelle für unser Leben. – Ob dieser Anspruch vielleicht der Grund war, dass man irgendwann den Inhalt der beiden Begriffe vertauschte? Unbewusst ist ja manches möglich. Die Eucharistie wurde zum „wahren Leib Christi“. Denn damit konnte man das Heilige, damit auch das so radikal Beanspruchende sich gegenüberstellen. An die Gegenwart Christi in der Eucharistie hat die Alte Kirche auch geglaubt. Aber durch die Entwicklung zur Anbetungsfrömmigkeit hat sich die Rolle von Kirche und Eucharistie im Leben der Glaubenden entscheidend verändert. Und die dadurch drohenden Gefahren sind oft Wirklichkeit geworden: die Kirche wird zu so etwas Ähnlichem wie die Gesellschaft und die Eucharistie wird zum Mittel des Heils, wenn nicht sogar zur Reliquie, und die mit der Leitung der Eucharistiefeier Beauftragten werden zu Funktionären. – Was hier mit dem Schlagwort „Anbetungsfrömmigkeit“ bezeichnet wird, ist bekanntlich eine Entwicklung mit sehr vielfältigen Ursachen, Erscheinungsformen und Wirkungen. Eine genaue Darstellung ist die Aufgabe der theologischen Wissenschaft. Hier ging es nur um einen Hintergrund für unseren Glauben an die „Gemeinde“. Als wir in diesem Zusammenhang die alten Skripten der beiden Vorlesungen von Ratzinger noch einmal hervorkramten, entdeckten wir einen Schatz!

 

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