52. Deutliche Verluste.

Viele praktizierende Christen entscheiden eigenständig, wann und wo sie am Gottesdienst teilnehmen. Und so sahen wir immer wieder Leute aus der Umgebung bei uns in der Hochdahler Gemeinde. Manche tauchten mehr oder weniger regelmäßig in den Gottesdiensten auf. Wir sahen das mit etwas kritischem Blick, weil zu der Zeit die These noch verbreitet war, dass man zu Hause, wo man wohnt, auch in den Gottesdienst gehen sollte. Die Besucher deshalb „Sakraltouristen“ zu nennen, war vielleicht etwas unverschämt, aber sie nahmen es eher heiter als verärgert. Und es hinderte sie nicht daran, sich bei uns wohlzufühlen. Eine größere Zahl – vor allem Leute aus Haan – integrierte sich stärker in der Gemeinde. Sonntag für Sonntag pilgerten sie nach Heilig Geist. Viele Kinder, begleitet von ihren Eltern, nahmen an der Kommunion- und Bußvorbereitung teil. Als wir dann 1977 mit dem Glaubenskurs zur Vorbereitung auf die Firmung begannen, machte eine Reihe von Haanern auch dabei mit und manche Jugendliche gesellten sich in der Vorabendmesse in Heilig Geist zu den Jugendlichen aus Hochdahl. Im Jahr 1983 kehrte der größte Teil dieser Wahl-Hochdahler wieder in ihre angestammte Gemeinde zurück. Wir haben damals den Weggang dieser Menschen als Verlust empfunden. Andererseits fanden wir es richtig, dass sie wieder in Haan das Leben der Gemeinde unterstützten.

 

Einen anderen Verlust in diesem Jahr konnten wir schlechter verkraften. Das lag auch daran, dass wir den Vorgang viel weniger verstehen oder deuten konnten. Zu Beginn der 80-er Jahre war die Bank an der Rückwand von Heilig Geist, die gut und gerne etwa fünfzig Personen Platz bot, in der Vorabendmesse um 19 Uhr ausschließlich von jungen Leuten belegt. Das war vielleicht eine Folge der intensiven Arbeit in der Firmvorbereitung. Natürlich war diese Teilnahme am Leben der Gemeinde nicht nur ein Ausdruck intensiven Glaubenslebens. Samstags um 19 Uhr in Heilig Geist traf man seine Freunde, mit denen man dann nach der Messe den weiteren Abend gestaltete. Der Gottesdienst war – auch – ein Treffpunkt! Das ist ganz normal in einem Alter, in dem Beziehungen und Gemeinschaft eine so wichtige Rolle spielen. Das Zusammenspiel zwischen den jungen und älteren Teilnehmern des  Gottesdienstes war nicht immer ganz unkompliziert. Ich erinnere mich, dass hier und da die Erwachsenen sich gestört fühlten durch die „Lebendigkeit“ der Leute auf der Bank. Aber wenn dann nach Beginn der Messe die Jugendlichen den Gottesdienst in gesammelter Atmosphäre mitfeierten, dann war klar, dass die Unruhe vorher und nachher nicht ein Zeichen von mangelnder Ehrfurcht oder Andacht war. Und manche Erwachsene lernten dabei, dass Gottesdienst und Leben zusammengehören, anders als in der gedrückten Atmosphäre ihrer eigenen Kindheit – Und dann leerte sich die Bank hinten auf einmal sehr auffällig. Ich habe die Vorstellung, dass das in wenigen Wochen oder Monaten vor sich ging. Andere meinen sich zu erinnern, dass es doch ein längerer Prozess war. Jedenfalls blieben die Jugendlichen weg! Und so wie bis dahin haben wir sie nie mehr in der Kirche erlebt. Alle späteren Bemühungen, sie wenigstens während ihrer Vorbereitung auf die Firmung zu einem Mittun in der Gemeinde und im Gottesdienst zu bewegen, hatten nur punktuell Erfolg. Und nur nostalgisch können wir uns heute an die Zeit erinnern, als „all die Jugendlichen hinten auf der Bank saßen“. 

 

Weniger auffällig war ein anderer Verlust. In den ersten Jahren, vor allem in der „großen Zeit“ der Ehekreise, konnten wir sehr intensiv den Eindruck haben, auf dem Weg des Glaubens gemeinsam mit vielen Menschen unterwegs zu sein. Und das erlebten wir nicht nur bei den Gesprächen in den Kreisen, sondern auch bei vielen Gelegenheiten, wenn die Gemeinde als ganze zusammen kam. Man sah einander immer wieder, bei Kindergottesdiensten und anschließenden Wanderungen, bei Pfarrversammlungen und Aktivitäten in der Gemeinde, oder auch immer dann, wenn Arbeit getan werden musste.

Im Laufe der 80-er Jahre fiel uns immer wieder auf, dass wir den einen oder die andere lange nicht gesehen hatten. Und wir fragten uns gegenseitig, ob jemand eine Ahnung hätte, wo sie geblieben seien. Viele machten einfach nicht mehr mit. Das war – anders als bei den anderen Verlusten – ein schleichender Vorgang. Und es waren nicht wenige, die uns so unterwegs abhanden kamen. Über die Ursachen kann man natürlich nur rätseln. Vielleicht ging es uns wie vielen anderen Gemeinden; die Teilnahme am religiösen Leben nahm eben ab. Oder es lag daran, dass die Kinder allmählich erwachsen wurden und dadurch die Bindung an das gemeinsame Leben nachließ. Oder wir haben in den ersten Jahren von dem Bedürfnis profitiert, in der Anonymität der neuen Stadt Kontakte und Beziehungen zu entwickeln, so dass in dem Maß, wie dieses Bedürfnis erfüllt wurde, die Bedeutung der Kirchengemeinde abnahm. – Für eine andere Erklärung steht der Satz „Wir haben es ihnen nicht gesagt“, der in diesen späten Jahren immer wieder einmal formuliert wurde. Gemeint ist, dass wir – die Leiter der Gemeinde – nicht genügend über die Hintergründe und Zusammenhänge informiert haben, weshalb wir die Gemeinde so und nicht anders geprägt haben. Wir sind unseren Weg  zuversichtlich und dankbar miteinander gegangen und haben in der Verkündigung, in der Klärung des Gemeindeaufbaus und in der Sakramentenvorbereitung viel überlegt, diskutiert und argumentiert. Aber hat die Gemeinde dabei eine hinreichend stabile und abgeklärte Glaubenssubstanz entwickeln können? Wenn man überlegt, wie intensiv und langwierig eine fundierte theologische Ausbildung ist, dann kann man von daher abschätzen, wie groß die Aufgabe eigentlich ist. Natürlich sollen die Gemeindemitglieder nicht alle ausgebildete Theologen werden, aber viel Einsicht und Erkenntnis, viel Auseinandersetzung und Mühe ist trotzdem nötig. Diese Überlegung stellt nicht in Frage, dass wir auch immer wieder großartige Äußerungen von ganz tiefer Glaubenseinsicht erlebt haben.

 

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