31. Der Dienst des Knechtes

Bei dem Versuch, die Erinnerungen an unsere Arbeit in Hochdahl aufzuschreiben, ging es immer wieder um das Thema der Leitung. Wie haben wir die Leitungsvollmacht des Bischofs erlebt? Wie ist die Diözesanverwaltung mit uns umgegangen? Fast noch häufiger haben wir zu klären versucht, wie wir uns als Gemeindeleiter verhalten haben und welches Bild und welchen Maßstab wir dabei hatten. Und bei diesem Thema gab es plötzlich eine ganz neue Möglichkeit der Deutung und die soll im Folgenden beschrieben werden.

Es war wieder einmal der 19.Sonntag im Jahreskreis und gelesen wurde als Evangelium Lukas 12, 32-48. Ziemlich schnell drängte sich der Eindruck auf, dass in diesem Text von der Aufgabe des Gemeindeleiters die Rede ist. Das war der Anlass, dass ich mich mit diesem Evangelium etwas intensiver beschäftigt habe. Und die Botschaft, auf die ich dabei stieß, erschien mir sehr anspruchsvoll. Und sie war mir keineswegs geläufig, obwohl ich den Text im Laufe meines Lebens immer wieder gehört oder selbst vorgelesen habe. Und die Anwendung auf den Gemeindeleiter (Vers 41 ff) ergab ebenfalls eine neue Perspektive. – Die folgenden Überlegungen sind eine Interpretation. Wenn man sie verstehen will, muss man gleichzeitig das interpretierte Evangelium (Lk 12, 32-48) vor Augen haben.

Das beherrschende Bild des gesamten Textes sind die Jünger, die auf ihren Herrn warten. Im Vers 36 wird es so formuliert: „Seid wie Menschen, die auf ihren Herrn warten, der von einer Hochzeit zurückkehrt, damit sie ihm sogleich öffnen, wenn er kommt und anklopft!“ Die Jünger Jesu sollen wie Menschen sein, die auf ihren Herrn warten! Wenn er kommt und sie wach findet, dann wird er sich gürten, sie am Tisch Platz nehmen lassen und sie der Reihe nach bedienen. Und sie werden selig genannt, wenn sie wach sind, auch wenn er erst in der zweiten oder dritten Nachwache kommt. Und dieses Warten muss eine dauernde Haltung sein, „denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, in der ihr es nicht erwartet.“ Dieser letzte Satz klingt auf Anhieb paradox: auch wenn sie warten, kommt der Herr trotzdem überraschend.

Dieser Stein des Anstoßes führte zu der Frage, was mit diesem Text eigentlich gemeint ist. Und eine naheliegende Interpretation wurde bald sehr fragwürdig. Fast immer verband sich nämlich beim Lesen dieses  Evangeliums das „Kommen des Herrn“ mit der Vorstellung von der Wiederkunft Christi. Das ist nicht überraschend. Wenn der Advent naht, dann sprechen die Katecheten von der ersten Ankunft Christi bei seiner Geburt. Das endgültige Kommen geschieht bei seiner Wiederkunft am Ende der Geschichte. Und jeder Glaubende begegnet ihm im Augenblick des Todes. Bei genauerem Hinsehen kann man aber schnell erkennen, dass dieser Zusammenhang hier nicht gemeint ist. Die Rede über die Endzeit steht bei Lukas im 21.Kapitel, und hier sind wir im 12.Kapitel. Und die Texte vor und nach dieser Erzählung sprechen von der neuen Art zu leben, die Jesus Christus fordert und möglich macht. Dann dürfte es in diesem Text um die gleiche Frage gehen. Welche neue Möglichkeit zu leben wird in diesem Evangelium angeboten?

Vielleicht hat Lukas schon vorausgesehen, dass der Leser auf die falsche Deutung mit der Wiederkunft kommen könnte. Denn er sagt ausdrücklich, dass es sich bei diesem Text um ein Gleichnis handelt. In Vers 41 fragt Petrus nämlich: „Herr, sagst du dieses Gleichnis nur zu uns oder auch zu allen?“ Es ist auffallend, dass Lukas an dieser Stelle diese Erzählform (Gleichnis) wählt. Es ist nämlich das einzige Gleichnis in einer Reihe von Texten im 11.-13. Kapitel. Alle anderen sind Aufforderungen zu Glauben und Vertrauen, Weisungen an das Volk oder Stellungnahmen zu dem Verhalten der Pharisäer und Schriftgelehrten. Nur am Anfang des 11.Kapitels (Vers 5-8) und im 13.Kapitel (Verse 18-21) gibt es noch andere Gleichnisse. Es könnte sein, dass die Botschaft dieses Evangeliums durch ein Gleichnis am  besten zu vermitteln ist. – Die Beschreibung, wie die Jünger das Kommen ihres Herrn erwarten sollen, gehört zur Bildebene des Gleichnisses, sie ist nicht die eigentliche Aussage, sondern der Vergleich, der in einem Gleichnis immer benutzt wird. Dann muss man die Formulierung genau nehmen: „Seid wie Menschen, die auf ihren Herrn warten“. So wie solche Menschen sollt auch ihr sein, von solcher Art und innerer Haltung, von solcher Bereitschaft und Offenheit. Lukas will mit dem Gleichnis eine Mentalität beschreiben, die für die Glaubenden grundlegend und lebensentscheidend ist. Und das ist eine wache, erwartungsvolle Grundhaltung. Und die Spitze des Gleichnisses, was es vermitteln will, wäre dann die Aufforderung: „Seid wach, schaut aus nach dem Mehr in eurem Leben, rechnet mit Fülle und Herrlichkeit und Ewigkeit!! Seid wie Menschen, die auf ihren Herrn warten!“ Und eine solche Mentalität ist dann allerdings wirklich die Voraussetzung für alles, was man vom Leben, von Gott, von Jesus Christus erwarten kann. – Dazu fiel mir dann Stephanus ein: Ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn zur rechten Gottes stehen (Apg 7,56). Auch das ist ein Bild, wie ein Geisterfüllter erkennt, was über alle so genannte Realität hinaus Wirklichkeit ist. – Und wenn man diese Mentalität nicht zu leben versucht, fällt alles hinunter in die Trivialität der vom Menschen produzierten Pseudo-Realität. Denn ohne diesen offenen Blick und das erwartungsvolle Herz kann man weder Jesus Christus zur Rechten des Vaters sehen noch sein Kommen im Geist wahrnehmen – im Leben und in der Gegenwart der Kirche heute.

 

Wenn es uns bei einer solchen Perspektive schwindelig zu werden droht, dann sollten wir auf die Stellen im Text zurückgreifen, die Lukas vielleicht deshalb an den Anfang gestellt hat, weil sie die Voraussetzung und die Quelle für eine solche Haltung sind. Die Perikope beginnt: „Fürchte dich nicht, du kleine Herde! Denn euer Vater hat beschlossen, euch das Reich zu geben.“ Steht da im Hintergrund vielleicht die Erfahrung des Lukas, dass schon zu seiner Zeit es für die kleine Herde schwierig war, unbekümmert in die Zukunft zu gehen? War vielleicht damals schon deutlich, wie gefährdet der Glaube in einer auftrumpfenden Welt ist? „Fürchtet euch nicht!“ In der Entscheidung und Macht des Vaters seid ihr geborgen, er hat beschlossen, euch das Reich zu geben. – Und auch die beiden folgenden Verse kann man als Stärkung in schweren Zeiten verstehen. Wer seinen Schatz im Himmel hat, braucht die Bedrohungen des Tages nicht zu fürchten. Und diesen Schatz kann man sich verschaffen, indem man den Besitz verkauft und Almosen gibt. Das ist eine Botschaft, die im Evangelium immer wieder auftaucht: nicht der Besitz an Geld und Macht rettet, sondern der „Himmel“. Wer seinen Schatz dort hat, ist gesichert. Dort findet ihn kein Dieb und frisst ihn keine Motte.

 

Mit der Frage des Petrus in Vers 41 kommt der „Gemeindeleiter“ in den Blick. Petrus fragt: „Herr, sagst du dieses Gleichnis nur zu uns oder auch zu allen?“ Und Lukas benutzt zwei verschieden Titel für den, der die Verantwortung hat für andere Glaubende. Er nennt ihn Verwalter oder Knecht. „Wer ist denn der treue und kluge Verwalter, den der Herr über sein Gesinde einsetzen wird, damit er ihnen zur rechten Zeit die Tagesration gibt“. Das Wort „Tagesration“ ist für mich eine ärgerliche Entgleisung in der neuen Einheitsübersetzung. Das Wort kann man benutzen, wenn der Küchenchef berechnet, wie viel er für seine 300 täglichen Gäste bestellen muss. Im Text des Lukas wird der Verwalter eingesetzt, damit er seinem Gesinde Tag für Tag gibt,  was sie zum Leben brauchen. Und selig ist der Knecht, den der Herr damit beschäftigt findet, wenn er kommt. Er wird ihn über sein ganzes Vermögen einsetzen. – Dieser Knecht, dieser Verwalter muss in seinem Dienst genauso geprägt sein von der erwartungsvollen Mentalität, die der Text von allen Glaubenden fordert. Und was er ihnen Tag für Tag gibt, dient dem gleichen Ziel. Die Haltung, die er selbst hat, soll in seinem Dienst darauf ausgerichtet sein, dass die Glaubenden nicht nachlassen in ihrem erwartungsvollen Ausschauen. Er muss sie immer wieder ermutigen und befähigen. „Seid wach, schaut aus nach dem Mehr in eurem Leben, rechnet mit Fülle und Herrlichkeit und Ewigkeit!! Seid wie Menschen, die auf ihren Herrn warten!“ So ähnlich könnte seine Verkündigung an dieser Stelle lauten. So ähnlich kann er seinen Dienst vollziehen, um den Gläubigen den Weg in das „Mehr“ des menschlichen Lebens offen zu halten – mit hellem Blick, offenem Geist und brennendem Herzen.

Dieser Dienst des Knechtes ist gefährdet durch persönliches Versagen oder vielleicht auch durch gemeinsame kirchliche Verkümmerungen. Die Nähe des Herrn und die Offenheit für die Fülle des menschlichen Lebens geraten in Vergessenheit, die Spannkraft erlahmt: mein Herr kommt noch lange nicht zurück! Dann werden die eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Machtphantasien zum Maßstab. Dann endet es schlimm! Lukas formuliert das auch sehr drastisch: der Herr wird ihn in Stücke hauen und ihm seinen Platz unter den Ungläubigen zuweisen. – Bei den letzten Versen (47+48) habe ich den Eindruck, dass Lukas mit diesem Horrorszenario nicht schließen wollte. Er formuliert den Unterschied zwischen einem Knecht, der den  Willen des Herrn kennt und nicht danach handelt und einem, der den Willen des Herrn nicht kennt. Und für das Versagen droht dann nicht mehr das „in Stücke hauen“, sondern mehr oder weniger Schläge. Den Vers, mit dem er schließt, kann dann wohl jeder wieder unterschreiben: Wem viel gegeben wurde, von dem wird viel zurückgefordert werden, und wem man viel anvertraut hat, von dem wird man umso mehr verlangen.

 

Von Anfang an bin ich ganz unbekümmert davon ausgegangen, dass man dieses Evangelium auf die Mentalität und Aufgabe des Gemeindeleiters anwenden kann.  – In Vers 41 fragt Petrus: „Herr, sagst du dieses Gleichnis nur zu uns oder auch zu allen?“ Mit „allen“ sind eindeutig alle gemeint, die der Verkündigung Jesu zuhören. Mit „uns“ meint Petrus zweifellos die Jünger, die eine Leitungsfunktion haben. So ist ja auch die Antwort Jesu zu verstehen, die sofort von dem „Verwalter und seinem Gesinde“ spricht. – Im Bild des Gleichnisses hat man spontan den Eindruck, dass es sich bei dem „Gesinde“ um eine überschaubare Gruppe handelt. Und der „treue und kluge Verwalter“ gibt ihnen Tag für Tag, was sie zum Leben brauchen, das heißt er kümmert sich in andauerndem Dienst um „seine Gemeinde“. Und dadurch kann er dem hohen Ziel seiner Aufgabe gerecht werden, dass die Seinen nicht nachlassen in dem erwartungsvollen Ausschauen. Die Botschaft dieses Evangeliums muss man in die heutige Zeit und in die Situation der Kirche heute übertragen. Dabei dürfte es unverändert um die überschaubare Gruppe gehen, in der der Verwalter seinen Dienst vollzieht. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass die Großstrukturen wie Diözese oder sogar Weltkirche einen solchen Dienst leisten können. Dann ist es aber berechtigt, das Evangelium auf die Gemeinde und ihren Leiter anzuwenden. – Demnach muss dann der Gemeindeleiter – wie alle anderen Glaubenden – sein wie ein Jünger, der auf seinen Herrn wartet. Er muss diese erwartungsvolle Mentalität haben. Und in dieser Haltung muss er der Gemeinde dienen, ihr immer wieder geben, was sie zum Leben braucht, was ihr hilft, ihrerseits die Augen und das Herz offen zu halten. Verhält er sich so, wird ihm eine große Belohnung zuteil, der Herr wird ihn über sein ganzes Vermögen einsetzen. Verliert er diese Offenheit, dann ist sein Leben in Gefahr. Erwartungsvolle Mentalität und Dienst an der Gemeinde – das ist die Aufgabe des Gemeindeleiters.

 

 

Zum Schluss ein paar Beispiele, wie eine solche Mentalität im Gottesdienst der Gemeinde und in manchen tiefgehenden Erlebnissen erfahren und gestärkt werden kann.

Die Gemeinde hat ihren Mittelpunkt in der Feier des Gottesdienstes. In der Feier der Eucharistie empfängt sie immer wieder den Geist und die Kraft für das gemeinsame Leben. Dort empfängt sie immer wieder ihren Maßstab und ihre Orientierung. Und es scheint, dass der Gottesdienst auch der bevorzugte Ort für den „Dienst des Knechtes“ ist. Die Verkündigung kann etwas haben von der Ermutigung: „Seid wach, schaut aus nach dem Mehr in eurem Leben, rechnet mit Fülle und Herrlichkeit und Ewigkeit!! Seid wie Menschen, die auf ihren Herrn warten!“ Und die Kraft zu solcher Stärkung der Glaubenden kann er empfangen aus einem vertieften Verständnis der Botschaft des Evangeliums, das ihm ermöglicht, selber die erwartungsvolle Mentalität zu leben. – Und wie müsste dann die Feier der Eucharistie vollzogen werden, die ja diesen weiten, ewigen Horizont gegenwärtig werden lässt gerade in der tiefsten, tödlichen Not? Dabei kann es doch nicht in erster Linie um das genaue Einhalten von Vorschriften gehen. „Das ist der Kelch des neuen und ewigen Bundes“ lautet ein Satz im Einsetzungsbericht. Der ist ein Zitat aus dem Propheten Jeremia (Jer 31,31 – 34). Und der Prophet verheißt dem Volk Israel einen neuen Bund, in dem die Gemeinschaft zwischen Gott und seinem Volk aus dem tiefsten Innern gelebt wird, eine Gemeinschaft des Geistes und des Herzens. Die erwartungsvolle Mentalität, von der Lukas spricht, vollzieht sich offensichtlich in der Eucharistie, indem die Gläubigen essen und trinken und darin ihren  Glauben an den nahen Herrn und die Fülle des Lebens bezeugen.

 

Gibt es für diese theologische Interpretation auch Erfahrungen, in denen man diese Offenheit und diese Sehnsucht nach der Fülle des Lebens lebensmächtig erlebt? Solche Erfahrungen würden uns ja den Zugang zu diesem Evangelium erleichtern. Ein paar Versuche:

Vor kurzem war ich in einem Konzert, in dem ein junger Pianist die zwei Klavierkonzerte von Mendelssohn spielte. Und beide, der Pianist und das begleitende Kammerorchester, waren technisch perfekt. Aber sie waren mehr als perfekt! Es war, wie wenn alle Mitwirkenden (40 bis 50 Personen) von einem gemeinsamen Geist getragen wären. Und dabei hatte das Orchester nicht mal einen Dirigenten – und der war auch überhaupt nicht nötig. Nicht „Musik vom Besten“, sondern Musik über Technik, Perfektion, Können hinaus – und über alles andere, was man in Begriffe fassen kann. – Eine Erfahrung von der Fülle und Schönheit des Lebens, die den Wunsch nach dem „Mehr“ weckte.

Oder wenn wir „Ave Eva“ oder „Franz von Assisi“ gesungen haben. In den Erzählungen darüber habe ich oft geschrieben, es sei ein Fest des Glaubens gewesen. Was man davon definieren kann, ist einiges: die hervorragenden Texte von Wilhelm Willms, die schmissige Musik von Piet Janssens, die Choreografie mit Blumen und Wein (bei Ave Eva) oder mit dem  Leichenzug (bei Franziskus). Weiter beschreibbar ist, welche Rolle die innere Beteiligung von Chor und Combo und die Aufnahmefähigkeit des Publikums spielt. Aber was ist eigentlich der Unterschied zwischen einer mittelmäßigen Aufführung und einem solchen Fest des Glaubens?  Da muss noch etwas sein, was sich der Definition entzieht, was im Erleben froh macht oder in der Tiefe begeistert – eine Erfahrung von Fülle und Schönheit des Lebens, die offen macht für das nicht Definierbare, das Wunder, das Menschliche über das hinaus, was wir selber produzieren.

Oder manche Firmgottesdienste. Auch da lässt sich manches beschreiben, was in der Vorbereitung auf die Firmung geschieht und was an Erhebendem in die Feier eingeht. Eine große Rolle spielen die Erfahrungen von Gemeinschaft und Begegnung und Kennenlernen in den Gruppen und bei den Wochenenden. Und die Erkenntnis, dass solche Begegnungen mehr sind als das,  was man in Gruppenanalysen oder sozialen Beschreibungen lesen kann. Und die ganze Zeit geht es auch thematisch um das „Mehr“ im menschlichen Leben. Die Begegnung mit dem Evangelium macht dann vielleicht schon den Blick offen für die Möglichkeit der Begegnung mit dem Unsagbaren. Und dann ist die Firmung die Zusage und Annahme dieser Wirklichkeit über alles hinaus. Wer es kann, wird vielleicht spüren, dass die Sprache vom Geist Gottes und der Befähigung der Glaubenden etwas meint, was über alles nur Menschliche hinausführt, was etwas verheißt von Fülle und Herrlichkeit und Größe Gottes.

 

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