16. Eine neue Chance

Das Arbeitspapier von 1971 formulierte ein anspruchsvolles Ziel. Die  christliche Gemeinde in der neuen Stadt Hochdahl sollte ihr Bemühen darauf ausrichten, dass  Menschen aus Entfremdung, Abhängigkeit und Anpassung herauswachsen und zu eigenverantwortlichen Menschen werden. Und die Mitglieder der Gemeinde sollten gleichzeitig in Vertrauen und Offenheit zueinander finden. Den Weg dazu haben wir mit dem Wort „Personale Begegnung“ umschrieben (Siehe Nr.14). Die Situation in Hassels zeigte, wie weit wir von diesem Ziel entfernt waren.

 

Aber dann bekamen wir eine neue Chance, die sich sogar parallel zu den Querelen im Pfarrgemeinderat entwickelte. Im Jahr 1973 haben wir die Vorbereitung auf die Erstkommunion auf kleine Gruppen umgestellt. Welche Veränderungen damit konkret verbunden waren und wie die Arbeit danach aussah, wird unter Nr.24 ausführlich erzählt. Dort kann man auch nachlesen, weshalb wir die neue Form für wesentlich besser hielten als die alte Praxis. – Was da 1973 begann, hatte eine kaum zu überschätzende Bedeutung für die Entwicklung der Gemeinde. Es war der Beginn der „Gemeindekatechese“, die unsere Gemeinde fast 40 Jahre lang geprägt hat. Ich glaube inzwischen, dass dieser Vorgang von 1973 die wichtigste Veränderung in der Geschichte der Gemeinde gewesen ist. Und wir sind in Hochdahl dieser Praxis bis 2007 und darüber hinaus treu geblieben. Dabei konnten wir irgendwann in späteren Jahren das Gefühl haben, ziemlich allein übrig geblieben zu sein. Natürlich ist die Erstkommunionvorbereitung mit immer wieder neuen Variationen weitergeführt worden, auch mit intensiver Beteiligung der Eltern. Aber oft war dabei auch deutlich, dass der Ablauf nicht mehr mit dem Wort „Gemeindekatechese“  zu beschreiben war. Die Geschichte der Gemeindekatechese in den westdeutschen Diözesen ist nämlich leider auch eine Geschichte der verpassten Chancen.

Die neue Möglichkeit, die wir 1973 bekamen, war für uns und die Gemeinde ein Geschenk. Wir haben die Umstellung zwar vollzogen und wir haben auch viele Gründe gehabt, so zu handeln (Siehe 24). Aber wir haben sie uns nicht ausgedacht. – Sie kam über uns. Sie begegnete uns – zufällig – auf unserem Weg. Und es muss ein ziemlich plötzlicher Vorgang gewesen sein. Viele Gemeinden in den westdeutschen Diözesen haben sich fast gleichzeitig entschieden, die Vorbereitung auf die Erstkommunion in kleinen Gruppen anzubieten. Und das vollzog sich, wenn ich mich recht erinnere, innerhalb von ein, zwei Jahren. Woher der Anstoß kam, ist nicht mehr festzustellen. Vielleicht war es ein Impuls, der von der Synode der deutschen Bistümer (1971 bis 1975) ausging, die ja auch für die Firmvorbereitung klare Empfehlungen ausgesprochen hat. Und wir in Hochdahl waren uns in diesem Fall sogar einig. Die erwähnten Schwierigkeiten im Pfarrgemeinderat standen plötzlich nicht mehr im Vordergrund. Team, Pfarrgemeinderat und viele Gemeindemitglieder haben die Umstellung einmütig begrüßt und sich mit Elan und großem Eifer an die Arbeit gemacht. Vielleicht gab es in der Gemeinde doch mehr Übereinstimmung als „Hassels“ vermuten ließ. Aber vielleicht war auch diese Einmütigkeit eine Beigabe in dem Geschenk.

Und es war ein überaus großzügiges Geschenk. In den ersten Jahren nach der Umstellung hatten wir jedes Jahr etwa 200 Kommunionkinder. Jeweils 20 bis 30 Eltern begleiteten diese Kinder. Diese Zahl nahm natürlich im Laufe der Zeit ab, aber auch zur Jahrtausendwende waren die Jahrgänge noch zwischen 100 und 150 (kath.) Kindern stark. Nach der Erstkommunion nahmen viel Kinde dann am Bußkurs teil. Ab 1977 wurde die Firmvorbereitung nach dem gleichen Muster gestaltet. Gruppen von acht bis zehn Jugendlichen hatten drei Begleiter. Von den katholischen Jugendlichen eines Jahrgangs nahmen dann zwar nur noch etwa ein Drittel an dem Glaubenskurs zur Vorbereitung auf die Firmung teil, aber das waren immerhin jedes Jahr 50 bis 60 Jugendliche. Und dann die Gespräche mit den Eltern der Taufkinder, die Taufvorbereitung für  Schulkinder, die Wochenenden für Jugendliche nach der Firmung!  Wenn man sich diese große Schar von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen vergegenwärtigt, dann geht es nicht um Zahlen. Vielmehr kann deutlich werden, welche  Chancen wir in den verschiedenen Bereichen der Gemeindekatechese gehabt haben. Ausgangspunkt war die Umstellung der Erstkommunionvorbereitung. Und daraus ergaben sich die vielen Möglichkeiten in den anderen Bereichen der Seelsorge.

 

Die Entscheidung von 1973, die Vorbereitung auf die Erstkommunion auf kleine Gruppen umzustellen, war überlegt und klar gewollt. Aber sie war mit einigen Risiken verbunden. Wenn uns das zu dem Zeitpunkt bewusst war, dann haben wir uns davon nicht sonderlich irritieren lassen. Vermutlich hat uns der Schwung des Konzils mutig gemacht. In vielen Pfarreien haben sich diese Risiken aber später als sehr schwerwiegend erwiesen und die Rückkehr zum Alten, scheinbar Bewährten, verursacht.

Zunächst war es ein Wagnis, für die Vorbereitung der Erstkommunion den Unterricht abzuschaffen. Denn „Unterricht“ war die Form, in der seit Jahrhunderten in Europa das Wissen von einer Generation an die nächste weitergegeben wurde. Besonders die privilegierten Gruppen in der Gesellschaft legten großen Wert darauf, dass ihre jungen Mitglieder alles an Wissen und Bildung zur Verfügung hatten, wenn sie die Altvorderen in der Leitung und Verantwortung ablösten. So hatten die Orden und die Herrscherhäuser ihre Schulen. Und auch in der Ausbildung der Priester gab es einen solchen soliden Bildungsweg. – Die religiöse Bildung des „Volkes“ kam natürlich auch nicht ohne Unterricht aus. Grundgelegt wurde der Glaube zwar in der Familie. Aber die Weiterführung geschah dann durch Predigt, „Christenlehre“ und schulischen Religionsunterricht. Der wurde – so habe ich es in meiner Kindheit erlebt – in Absprache zwischen Pfarrer und Lehrpersonen erteilt. Den Bibelunterricht gab bei uns die Lehrerin, für den Katechismus kam der Pastor in die Schule. Und im „Unterricht“ muss man „lernen“. Ich habe noch ganze Passagen aus dem Katechismus auswendig gelernt, nicht nur die Fragen und Antworten, sondern auch Teile der Erläuterungen. Auch für den Beicht- und Kommunionunterricht kam der Pastor in die Schule. Er ging zwar sehr einfühlsam mit den Kleinen um, aber es war halt doch „Unterricht“. Bei dieser Tradition war es eigentlich ganz konsequent, dass in unserer Kommunionvorbereitung in Hochdahl Eltern immer wieder fragten, ob die Kinder nicht das Glaubensbekenntnis und die zehn Gebote auswendig lernen müssten.

Es war sehr mutig, gegen ein solches Gewicht der Tradition bei der Umstellung der Kommunionvorbereitung auf den Unterricht zu verzichten. Vielleicht spielte dabei auch eine Rolle, dass wir die fragwürdigen Seiten vieler „Lehrveranstaltungen“ ja auch kannten. Ich war jedenfalls froh, dass ich nicht mehr, wie in den beiden Jahren vorher, 30 bis 40 Kommunionkinder in der Willbecker Schule unterrichten musste. Demgegenüber war die kleine Gruppe von fünf bis sieben Kindern verheißungsvoll. Die Kinder hatten die Chance, eine intensive Gemeinschaft zu erleben und wegen der begrenzten Zahl der Teilnehmer auch untereinander Beziehungen und Freundschaft zu finden. Vielleicht kann man deshalb sagen, dass der Unterricht in die Schule gehört und das Gespräch der kleinen Gruppe in die Gemeinde. In der kleinen Gruppe ist die Form des Lernens das Gespräch, bei dem grundsätzlich jeder Gesprächspartner ist und durch sein Überlegen und Erzählen, durch sein Fragen und Suchen zum Wachstum des Glaubens und der Erkenntnis beitragen kann. Diese Form des Lernens ist eine grundsätzliche andere als die Form des Unterrichts. Aber das große Risiko war, dass auf die Dauer der übliche Unterricht für alle Beteiligten wieder attraktiv werden könnte, weil er einfacher und bequemer und mit weniger Einsatz zu planen und durchzuführen ist.

Ob die neue Form der Kommunionvorbereitung gelingt und ein Rückfall in alte Unterrichtsformen vermieden werden kann, hängt von allen Beteiligten ab. Dabei sind die Schwierigkeiten nicht gleichmäßig verteilt. – Die Gemeindeleitung muss bedingungslos zu der Veränderung stehen und darf sich auch nicht durch Schwierigkeiten oder Missverständnisse von Gemeindemitgliedern verwirren lassen. Die Aufgabe ist aber relativ einfach, weil sie vor allem die Rahmenbedingungen garantieren muss, von der Einladung der  Eltern bis zur Gestaltung der Kommunionfeier. Und die Zuständigkeit der verschiedenen Mitglieder der Gemeindeleitung für ein oder zwei Stadtviertel (vgl.Nr.24) war eher eine Möglichkeit, „dabei zu sein“, und nicht so sehr eine Belastung. Soweit die vorgesehenen Elternabende wirklich zustande kamen, konnte es dabei hin und wieder zu Konflikten kommen, wenn die verschiedenen Vorstellungen vom Leben der Kirche aufeinandertrafen. – Die neue Form der Vorbereitung vollzieht sich natürlich vor allem in der Arbeit der Eltern, die die Kinder in der kleinen Gruppe begleiten. Es waren meistens die Mütter, die diese Aufgabe übernahmen. Und ich glaube, dass diese „Zuständigkeit“ gut war. Denn die Mütter haben in vielen Fällen aus den Erfahrungen mit eigenen Kindern eine natürliche Kompetenz entwickelt, die durch keine Schulung oder Anweisung eingeholt werden kann. Und die Entwicklungspsychologie sagt ja wohl auch, wie stark und wichtig die Bindung von Mutter und Kind in den ersten Jahren ist. Und die Erfahrungen aus dieser Zeit wirken sich sicher auch noch aus, wenn die Kinder im dem Alter sind, dass sie zur Kommunion gehen. Das gilt natürlich nicht, wenn die Eltern beide voll berufstätig sind und das schon kurz nach der Geburt eines Kindes wieder aufgenommen wird. In der kleinen Gruppe geschieht die  Umstellung in der Form des Lernens. Sie vollzieht sich so, dass jeder in der Gruppe überlegt und sucht und fragt und seine Erkenntnis, mag sie auch noch so klein sein, ins Gespräch bringt. Jeder Teilnehmer ist gewissermaßen gleichzeitig Lehrender und Lernender. Die Rolle der Mutter in der kleinen Gruppe sieht dann so aus, dass auch sie sucht und fragt und ihre Erkenntnisse – in der kindgerechten Sprache der Gruppe – ebenfalls ins Gespräch bringt. Gleichzeitig muss sie im Blick haben, welche ihrer Erkenntnisse die Kinder zu neuem Fragen und Finden anregen können. Das ist nicht einfach. Es ist aber sicher näher am Leben als im Katechismus vorformulierte Sätze zum Auswendiglernen. Und deshalb kann man auch erleben, dass diese Form des Gesprächs viel Freude macht. Und alles, was auch nur von Ferne eine Beziehung zum Glauben hat, kann zum Gegenstand des Fragens und zum Ausgangspunkt des Gesprächs werden. Sehr hilfreich sind dabei die vielen Kinderbibeln und Bildhefte zum Leben Jesu. Auch Kirchen und Gottesdienst warten in der Vorbereitungszeit auf Kennenlernen und Verstehen. – Den schwierigsten Part hat der, der die Vorbereitung leitet für die Eltern, die die Kinder begleiten. Das wird im Normalfall einer der Hauptamtlichen sein, einer aus der Gemeindeleitung, vielleicht zusammen mit einem oder zwei Mitgliedern der Gemeinde, die schon Erfahrung in der Kommunionvorbereitung gesammelt haben (vgl. auch hier Nr.24).  Diese Aufgabe ist vor allem deshalb schwierig, weil sie eine deutliche (vielleicht sogar radikale) Veränderung im eigenen Rollenverständnis fordert. Er muss sich von der Vorstellung verabschieden, dass er der Wissende ist, der die Anderen unterrichtet. Er muss sich stattdessen wie die  Anderen als ein Suchender und Fragender verstehen. Konkret heißt das, dass er seine theologischen oder allgemein menschlichen Kenntnisse nicht als Besitz verwalten darf, sondern sie neu wie beim ersten Mal befragen und bedenken und erkennen muss. Denn die ganze Gruppe soll zunächst klären, was Gott, Jesus, Kirche, Eucharistie usw. für das eigene Leben bedeuten. Dann kann man mit den eigenen Erfahrungen und Lebendbezügen den Kindern etwas weitergeben, was auch ihr Leben betrifft. Wenn dieser Prozess der Klärung offen und ehrlich vollzogen wird, dürfte sich in den meisten Fällen in der Gruppe ein gutes Klima einstellen. Gegenseitiges Vertrauen ist für die Gemeinschaft  und auch für den Weg der Erkenntnis wesentlich.   

 

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