15. Schlechte Stimmung

Im Pfarrgemeinderat gab es nach 1971 wiederholt heftige Auseinandersetzungen, die oft auch mit Aggressivität und Lautstärke einhergingen.  Es ging immer um die Zukunft der Gemeinde. Wenn man sehr wohlwollend ist, kann man die Konflikte als ein Zeichen interpretieren, dass das Thema keinen der Beteiligten gleichgültig ließ. Trotzdem werden einzelne Mitglieder inständig gewünscht haben, dass etwas mehr Rücksichtnahme oder Selbstbeherrschung das Zusammensein erträglicher und erfreulicher machen würde. Manches wird man mit der menschlichen Schwäche erklären können, manches war sicher auch eine Folge von Herrschaftsansprüchen. Und die Stimmung war oft schlecht und ließ sich dann  auch nicht kurzfristig verbessern.

 

Wenn man diese Situation zu verstehen versucht, dann fällt zunächst auf, wie sehr sich die Atmosphäre im Pfarrgemeinderat verändert hatte. In der Einleitung zum vorigen Text („Personale Begegnung“) wird erzählt, welchen Arbeitseifer die Mitglieder im Frühjahr 1971 an den Tag gelegt haben. Die Stimmung war offensichtlich sehr gut und das Wochenende in Horrem war so produktiv, dass daraus die Vorstellung von der personalen Begegnung entstehen konnte. Sogar die Gliederung des Textes stammte von diesem Treffen. Am 1.September 1971 war dann die Sitzung von Pfarrgemeinderat und Kirchenvorstand, für die dieser Text entstanden war. Und da ist das Arbeitspapier „durchgefallen“, wie jemand viele Jahre später aus seinem Tagebuch zitieren konnte. Der Text hatte die Überschrift „Gedanken zur Entwicklung der katholischen Kirchengemeinde Hochdahl“ und natürlich ging es dabei um die innere, also die geistliche Entwicklung der Gemeinde. Wenn aber Pfarrgemeinderat und Kirchenvorstand eine gemeinsame Sitzung hatten, dann haben sie dabei nicht über die geistliche Entwicklung der Gemeinde gesprochen. Sie werden sich mit praktischen Aufgaben und Lösungen beschäftigt haben. – Ich kann mich nicht erinnern, dass ich im September/Oktober 1971 enttäuscht oder wütend gewesen wäre; aber „die schlechte Stimmung“ muss irgendetwas mit dieser Ablehnung des Arbeitspapiers zu tun gehabt haben.

Es hat dann lange gedauert, bis ich mich noch einmal mit dem Artikel über die „Personale Begegnung“ (Nr.14) beschäftigt habe, um mir den Zusammenhang wieder ins Gedächtnis zu rufen. Dabei fiel mein Blick zufällig auf ein paar Worte in der Einleitung zu diesem Text. Die Worte stehen nur in Klammern, spielten also keine Rolle im Gedankengang und sind trotzdem sehr wichtig. Der Pfarrgemeinderat hatte in Horrem eine „Theologisch-geistliche Wochenendtagung“ erlebt. Dieser Titel trifft ziemlich genau die Thematik und die Atmosphäre bei diesem Treffen. Die in Horrem dabei gewesen waren, behielten das Wochenende in guter Erinnerung. Und es wirkte nach. „Der Geist von Horrem“ wurde in der Folgezeit immer wieder zitiert oder sogar beschworen. Und das war Ausdruck des Wunsches, eine solche Intensität im Gespräch und Vertrautheit im Miteinander wieder zu erleben. Für mich war das eine Vorstellung, wie ich mir die Zugehörigkeit zur Kirche und die Zusammengehörigkeit unter den Mitgliedern der Gemeinde wünschte. Und ich hatte die Hoffnung, dass eine solche Mentalität für die Zukunft der Gemeinde prägend werden könnte.

Das Problem mit dem Geist von Horrem war nur, dass es die Bedingungen jenes Wochenendes nicht mehr gab. Die guten Erfahrungen und das reale Erleben der Gruppe waren Vergangenheit. Was in der Folgezeit übrig blieb, war ein Bedürfnis (nach Wiederholung), ein Wunsch, der sich bei entsprechenden Situationen unter Umständen in einen Anspruch verwandelte. Dieser Wunsch hatte in der Gemeinde keine Möglichkeit, in einer Gruppierung, einem Kreis oder einer regelmäßigen Veranstaltung realisiert zu werden. Eine solche Möglichkeit hätte erst geschaffen werden müssen. Gruppen wie die Ehekreise wären dazu vielleicht eine Chance gewesen. Aber in dieser Phase ist es dazu nicht gekommen. Es könnte deshalb sogar sein, dass das Konzept und die Beschreibung in dem Text „Personale Begegnung“ durchaus auf Interesse stieß, dass es aber an der Umsetzung fehlte. Es gab offensichtlich nirgendwo ein Programm oder eine klare Beschreibung, welche Gruppen daran arbeiten sollten und mit welchen Methoden das geschehen könnte.

Und dann geschah etwas, was die anfangs beschriebene Misere zur Folge hatte. Da gab es doch ein Gremium, das existierte und bei allen hoch im Kurs stand: Der Pfarrgemeinderat! Etwas von dem, was man in Horrem erlebt hatte oder was in der „personalen Begegnung“ beschrieben war oder was man sich als gute Atmosphäre in einer Gruppe wünschte, sollte im Pfarrgemeinderat Wirklichkeit werden. Solche Bedürfnisse waren vorhanden, aber sie waren sehr wahrscheinlich keinem der Beteiligten klar bewusst.

Es gab andere Vorstellungen, mit denen andere Leute in den Pfarrgemeinderat kamen. Es gab in dieser Phase des Aufbaus der Hochdahler Gemeinde viel zu überlegen, zu besprechen, zu planen und zu entscheiden. Und das musste im Pfarrgemeinderat und Kirchenvorstand geschehen. Die Fragestellungen, die dabei geklärt werden mussten, kann man zum Beispiel in Nr.17 nachlesen (Eine Gemeinde von 20.000 Katholiken). Und wie die Durchführung und die Vollendung aussehen konnten, wird in Nr.47 erzählt (Das Haus in Millrath-Ost). Es gab sehr viel zu tun und auch ich habe dabei mit Begeisterung und viel Phantasie mitgemacht. – Und dafür war die Mentalität nötig, die zur Ablehnung des Arbeitspapiers (Personale Begegnung)  in der Sitzung von Pfarrgemeinderat und Kirchenvorstand am 1.9.1971 geführt hatte. Es ging um sachliche Fragen, die für die Zukunft der Gemeinde entscheidend waren, die gute Information, Sachkenntnis und klare Entscheidungen verlangten. Und das war ein Anspruch, der von der Sache gefordert war.

Ich halte beide Bedürfnisse und Wüsche für berechtigt. Und beide Aufgaben, die geistliche Entwicklung der Gemeinde und die Sorge um die räumliche Struktur, um die äußeren Lebensbedingungen, müssen ihren Ort haben. Nur darf man beide Aufgaben auf keinen Fall gleichzeitig zu lösen versuchen. Sie sollten deshalb auch nicht bei ein und derselben Sitzung des Pfarrgemeinderats zur Debatte stehen. Ziel und Methoden sind so verschieden, dass beim Zusammentreffen nur Unfriede entstehen kann. Und das scheint im Pfarrgemeinderat nach 1971 immer wieder der Fall gewesen zu sein. Etwas schematisiert kann man wohl sagen: es gab die ganze Zeit zwei unterschiedlich Vorstellungen, was in den Sitzungen geschehen sollte. Wären diese verschiedenen Wünsche klar und beschreibbar gewesen, dann hätte man für jedes Anliegen unterschiedliche Treffen vereinbaren können. So aber waren im Untergrund beide Bedürfnisse dauernd präsent und es gab eine permanente Spannung, die sich ziemlich regelmäßig entlud. – Ein guter Trainer hätte die Situation analysieren und entschärfen können!

Wenn diese Deutung der Schwierigkeiten richtig ist, dann dürfte „Hassels“ etwas von seinem Schrecken verlieren. Das Wochenende in Hassels war nämlich der Höhepunkt der problematischen Situation. Man braucht den Namen „Hassels“ nur zu nennen und bei allen, die dabei  waren, verdüstert sich das Gesicht und ein „furchtbar“ quält sich über die Lippen. Geplant war es als ein Treffen zur „Selbstfindung“, weil ja die Arbeit für die Gemeinde davon abhängig ist, wie die Gruppe sich selbst versteht. Der Pfarrgemeinderat war im März 1974 neu gewählt worden und das Wochenende war im Herbst 1974. Hassels ist ein kleiner Stadtteil von Düsseldorf im Südosten der Stadt. Im Jugendheim der dortigen Pfarrei waren wir versammelt und einer, der aus beruflichen Gründen erst etwas später dazu kam, fand eine Truppe vor, die zerstritten und deprimiert und den Tränen nahe war. Die damals dabei waren, können durchweg nicht mehr sagen, worum es eigentlich ging, stellen aber fest: es war eine totale Katastrophe! So wurde der Name „Hassels“ zum Begriff für das, was in den ersten Jahren der neuen Stadt nicht gelungen ist – zumindest im Pfarrgemeinderat.

Bei dem Versuch, die „schlechte Stimmung“ zu verstehen, tauchte die Frage auf: Wieso musste der Gegensatz zwischen den verschiedenen Vorstellungen für die Zukunft der Gemeinde ausgerechnet im Pfarrgemeinderat ausgetragen werden?

1. Der Pfarrgemeinderat war ein neues und von vielen Mitgliedern in der Gemeinde geschätztes Gremium. Viele Katholiken verbanden damit die Hoffnung, dass die Kirche lebendiger und menschlicher werden würde. Hans Meixner hatte schon vorher einen Pfarrausschuss gegründet, der manche Funktionen vorwegnahm. Diese Gruppe wurde zum  Pfarrgemeinderat. Wenn es nun um die Zukunft der Gemeinde ging, war der Pfarrgemeinderat das zuständige Gremium. Ein anderes Gremium, das eine vergleichbare Beschäftigung mit der Zukunft ermöglichte, gab es nicht. Die Rolle des Kirchenvorstands war nach Staatskirchrecht auf andere Abläufe festgelegt.

2. Der Pfarrgemeinderat war eine hinreichend unverbindliche Gruppierung. Man konnte Grundsatzprobleme debattieren, man konnte auch Entscheidungen fällen und man konnte sogar Aufgaben verteilen. Die Ausführung war damit aber nicht garantiert. Eine solche Erfahrung konnte und kann man bis heute immer wieder machen. Und jede nicht umgesetzte Lösung verstärkte den Frust.

3. Wenn man mutig ist, könnte man deshalb behaupten, die zu Beginn beschriebene Misere sei zum Teil die Folge eines Fehlers in der Konstruktion des Pfarrgemeinderats. Vielleicht müsste man deshalb die Struktur und die Aufgaben des Pfarrgemeinderats noch einmal unter die Lupe nehmen.

 

Ein anderes Gremium war bei uns in Hochdahl ähnlich angesehen und beliebt: das Team. In Nr.6 wird der Sinn der Zusammenarbeit unter mehreren Hauptamtlichen sehr positiv beschrieben. Und nach dem Weggang von Hans Meixner übernahmen wir als Team die Leitung der Gemeinde (Nr.20). Dafür gibt es eine Beschreibung, wie die Teamarbeit im Einzelnen geplant war. In Team 4 (Nr.55) steht dann eine kritische Bemerkung, dass die Übereinstimmung zwischen den Teammitgliedern nicht so gelungen ist, wie das in der Theorie geplant war: „Was sehr schwierig war und weitgehend nicht gelungen ist, war der Austausch über die persönlichen Hintergründe, Bedürfnisse, Sorgen und Enttäuschungen. In den ersten Jahren ist das nicht zum Problem geworden. Wie waren ja auch nicht unvorbereitet in das Experiment „Teamarbeit“ eingestiegen.“ Das hat zwar nicht zum offenen Konflikt geführt, hat aber vielleicht manche Klärung oder Problemlösung behindert. – Ob wir als Team in die gegensätzlichen Positionen im Pfarrgemeinderat eingebunden waren, halte ich für möglich, ist aber nicht mehr zu klären. Genau so wenig ist zu sagen, was wir als Team für die Lösung hätten tun können.

 

Der folgende Text (Nr.16) ist überschrieben: Eine neue Chance. Bei der Umstellung der Vorbereitung auf die Erstkommunion gab es die bisher nicht vorhandenen anderen Gruppen (außer dem PGR): die Gruppen der Kinder und die Gruppen der Eltern, die die Kinder begleiteten. Die ganze Arbeit hatte eine klare Struktur mit festgelegten Arbeitsabläufen, Treffen und Inhalten. Die Organisatoren kamen zu ihrem Recht. Gleichzeitig war eine geistliche Entwicklung das Ziel, vor allem in den Gruppen der Kinder und als Voraussetzung dafür auch in der Gruppe der Begleiter. Das Gespräch sollte zu Erkenntnis und wachsender Gemeinschaft führen. Eine organisatorische und geistliche Entwicklung!

 

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