14. Personale Begegnung

Der 1.September 1971 – dieses Datum hat sich in der Erinnerung festgesetzt. An diesem Abend war nämlich eine Sitzung von Pfarrgemeinderat und Kirchenvorstand in der alten Baracke hinter der Trillser Kirche. Und für dieses Treffen gab es ein Arbeitspapier, das den Titel hatte: Gedanken zur Entwicklung der katholischen Kirchengemeinde Hochdahl.  Es ist wahrscheinlich entstanden aus der Arbeit des Pfarrgemeinderats in der ersten Jahreshälfte 1971. Man muss heute noch staunen über den Einsatz (und vielleicht sogar die Begeisterung) der Mitglieder. Bezeugt sind im März und April drei Sitzungen hintereinander (am 10.3.,  24.3.und16.4.) und dann ein Wochenende am 12./13. Juni im „Haus der Begegnung“ in Horrem („ Theologisch-geistliche Wochenendtagung des Pfarrgemeinderates“). Einen großen Teil der Arbeit hat dabei Heinrich Smoch geleistet; er schrieb bei den Gesprächen mit und sorgte dafür, dass alle Beteiligten kurze Zeit später die Ergebnisse nachlesen konnten, sauber mit Schreibmaschine geschrieben, vielleicht unter Mithilfe von Fräulein Weber. Es gab bei dem Wochenende drei große Themen, die sich dann in den drei Abschnitten des Arbeitspapiers niedergeschlagen haben. Es ging auch bei diesen Bemühungen um die Zukunft der Hochdahler Gemeinde, aber die Überlegungen unterschieden sich deutlich von dem, was sonst normalerweise besprochen wurde. Es ging nicht um die räumliche Organisation der Gemeinde oder die Bauplanung, nicht um Teamarbeit oder Ökumene. Der Text versuchte vielmehr eine Vorstellung zu entwickeln, wie Menschen aus Entfremdung, Abhängigkeit und Anpassung herauswachsen und zu eigenverantwortlichen Menschen werden können. Und dabei sollte gleichzeitig die Antwort erkennbar werden, wie die Menschen einer Gemeinde in Vertrauen und Offenheit zueinander finden können.

 

Im ersten Abschnitt des Textes (Mensch – Gesellschaft – Kirche) geht es um die Lebensbedingungen des Menschen, wie sie sich damals darstellten. Die Wertungen sind zwar vorsichtig, weil die beschriebenen Erscheinungen sowohl als Chance als auch als Gefährdung interpretiert werden können. Insgesamt wird aber die Sorge deutlich, dass der moderne Mensch nicht mehr er selbst sein kann. Wenn er sich im Beruf unter Umständen bedingungslos dem dauernden Druck und der selbstverständlichen Über- und Unterordnung ausliefert, kann er sich verlieren, sodass er nur noch funktioniert. Oder wenn er nur noch dem folgt, was die Gesellschaft ihm vormacht und vorgibt, wird er fremdbestimmt. Damals wurde die Anpassung an die Gesellschaft vor allem bei der Mode kritisiert. Denn das betraf auch junge Menschen. Wenn man allerdings heute sieht, wie fast alle, wo sie gehen und stehen, tippen oder wischen, dann hat man den Eindruck, dass die Abhängigkeit von der Gesellschaft heute viel gefährlicher ist. Wer hat nicht 1000 Freunde im Netz? Eine andere Gefährdung sieht der Text in der Anonymität, in die jemand flüchten kann, um sein aufgebautes Image vor dem Nachbarn aufrecht zu erhalten. Vielleicht war uns die Anonymität auch deshalb verdächtig, weil  man 1971 noch davon ausging, dass Hochdahl im  Endausbau 45.000 Einwohner haben sollte.

Im Text wird dann die Rolle der Kirche in dieser Situation in den Blick genommen. „Die kirchliche  Entwicklung hat mit der gesellschaftlichen nicht Schritt halten können. Es besteht eine Diskrepanz zwischen der Lebensform des heutigen Menschen und den Lebens- und Verkündigungsformen der Kirche.“ Kritisch werden die Grundvollzüge kirchlichen Lebens unter die Lupe genommen, Verkündigung, Liturgie und Diakonie. Und deutlich werden die Schwachstellen benannt: Die Aussagen in der Verkündigung haben zu wenig Bezug zum konkreten Leben, auch wenn sie oft theologisch richtig sein mögen. In der Liturgie fehlt die immer wieder behauptete Gemeinschaftserfahrung und die Diakonie erschöpft sich oft in dauernden Appellen an den einzelnen Christen, für andere helfend tätig zu werden.

Es folgen noch einige Ausführungen zu der soziologischen Unterscheidung von Öffentlichkeit und Privatheit, die am Schluss dazu überleiten, was das zentrale Thema des Textes ist: wie können dem  Einzelnen Wertungen und Strukturen angeboten werden, die es ihm ermöglichen, ganzmenschlich zu leben und sich personal zu entfalten und wie kann sich das in einer christlichen Gemeinde, wie kann sich das in der katholischen Gemeinde in der neuen Stadt Hochdahl vollziehen.

 

Im zweiten Abschnitt (Christliches Leben und Verkündigung heute) geht es um den Weg, wie Menschen heil werden können, und gleichzeitig um eine heilschaffende Gemeinschaft. Der Titel dafür lautet: Personale Begegnung. Was mit diesem Wort gemeint ist, lässt sich leicht erläutern. Wenn ein Mensch, der gemobbt wird oder der deutliche Erscheinungen von Burn-out hat, auf Menschen stößt, die ihn bedingungslos annehmen, dann kann ihn das zunächst trösten oder ermutigen. Wenn die Begegnung dann persönlicher wird, kann sie für den bedrückten oder bedrohten Menschen die Gelegenheit sein, sein Vertrauen zu sich und den Mitmenschen wieder oder neu zu entwickeln.. Beides ist wesentlich: der Hilfsbedürftige muss fähig sein, noch etwas Neues und Hilfreiches zu erleben und er muss Menschen begegnen, die ihn so annehmen und auffangen, wie er hinter aller Fassade wirklich ist. Und je mehr beide Seiten von allem Zufälligen und Verkümmerten absehen und einander so begegnen, wie sie im Kern ihrer Person wirklich sind, umso mehr geschieht Befreiung und Heilung. Die Voraussetzung, damit so etwas sich vollziehen kann, ist offensichtlich ein irgendwie gearteter Glaube an das Gute, an Liebe, an die Möglichkeit von Heil. Das heißt gleichzeitig, dass ein solcher Prozess nicht machbar oder gar manipulierbar ist. Man könnte sogar meinen, eine solche Beschreibung sei unlogisch, weil eins vom andern abhängt und weil man keins einfach setzen oder postulieren kann. Die in der Psychotherapie ein solches Muster vor Augen haben, müssen Könner sein!

Der nächste Abschnitt im Arbeitspapier beschreibt dann, wie personale Begegnung in Gruppen geschehen kann. Der Punkt b) dieses zweiten Teils war überschrieben „Personale Begegnung als Prozess“. Und diese Überlegungen sind auf Vorgänge in der Gemeinde anwendbar. Ein Zitat aus der entsprechenden Beschreibung im Arbeitspapier:  „Die Gelegenheiten und Formen, in denen Menschen zusammenkommen, sind unendlich zahlreich. … Das anfängliche Motiv, sich zu begegnen, kann oberflächlich und zufällig sein. Zufällige Begegnung auf der Straße, im Geschäft, bei bestimmten Ereignissen (Pfarrfest) führt zu einem ersten Kontakt. Möglicherweise schließt man sich auch unter einem bestimmten Interesse (Interessengruppe) oder Bedürfnis (Kontaktsuche) zusammen. Möglicherweise löst sich ein solcher Zusammenschluss wieder auf, wenn das betreffende Bedürfnis erfüllt ist. Es kann aber auch sein, dass es – wegführend von dem ursprünglichen Anlass – zu einer personalen Begegnung zwischen diesen Menschen kommt. Man versteht sich gegenseitig, an die Stelle des Sachinteresses, das zusammenführte, tritt das Interesse an dem oder den anderen Menschen. In Gesprächen werden mehr und mehr die rein sachlichen, theoretischen Argumente, die nichts von der jeweiligen persönlichen Situation erkennen lassen, abgelöst durch Erfahrungsgründe. Der Einzelne bringt – im Maß des wachsenden Vertrauens – mehr und mehr seine eigene Geschichte, seine Situation, seine Erlebnisse, vielleicht sogar sein persönliches Versagen ein. Die theoretische Diskussion wird allmählich abgelöst von einem Gemeinschaftsprozess, der unter Umständen in der Auseinandersetzung mit einem Thema abläuft, in dem aber der Einzelne und die Gemeinschaft das eigentliche Thema sind. Je größer in diesem Prozess die Offenheit füreinander wird, je größer das Vertrauen und die Gesprächsbereitschaft, umso intensiver wird das Gemeinschaftsbewusstsein werden.“

Damit der Lesser nicht den Eindruck hat, das sei ein einfacher Prozess, immer in Richtung von etwas Besserem und Schönerem, werden in dem Text dann ausdrücklich Konflikte und Schwierigkeiten oder sogar das Scheitern mit einem Abbruch der Kontakte thematisiert. Auch das ist möglich, aber eben auch der Weg zu einer lebendigen, vertrauensvollen Gemeinschaft. Ich vermute, dass bei der Abfassung dieses Textes Erfahrungen mit den drei Jahre vorher gegründeten Ehekreisen mitgespielt haben.

Mit Blick auf die Kirche und die Gemeinde heißt es dann weiter: „Die Aufgabe von Kirche, Gemeinde, Gemeindeleiter ist von daher: Auf dem Weg personaler Begegnung den anderen Menschen ganz anzunehmen. Das bedeutet Verzicht auf Abwertung des Anderen, Verzicht auf Vorurteile, überhaupt auf vorgängige Wertung. Auf diesem Weg muss und kann der heutige Mensch die Botschaft Christi im Zeugnis der Christen als befreiend, beglückend, helfend erfahren. Die Kirche darf nicht mit einer neuen Forderung auftreten, der heutige Mensch ist sowieso dauernd gefordert und überfordert. Die Begegnung mit den Menschen der Gemeinde muss erfahrbar sein als bedingungslose Liebe, als radikale Bereitschaft, den anderen zu tragen. Das setzt die eigene Erfahrung des Getragenseins voraus, insofern einen lebendigen Glauben, Glaube an das Gute, Glaube an den Schöpfer, der zu seinen Menschen steht, Glaube an den auferstandenen Herrn, dessen Auferstehung Zeichen ist für den Sieg dienender Liebe, Güte, Hingabe. Solcher Glaube, solcher Optimismus, solche Hoffnung, solche Offenheit für den Anderen, sprich Liebe, macht die Botschaft Christi glaubwürdig, attraktiv, und ermöglicht dem andern, seinerseits zu glauben.“

Für die Praxis der Seelsorge in Hochdahl war der 3. Abschnitt (Prinzipien der Gemeindebildung) als Folgerung aus dem Bisherigen ganz wichtig. Wenn Personale Begegnung der Königsweg der Seelsorge werden soll, dann hat das Konsequenzen für die Bereiche oder Orte, an denen die Seelsorge vor allem tätig wird. Personale Begegnung kann sich nicht in der großen Menge, in den Großereignissen des Lebens der Kirche vollziehen. Diese sollen dadurch aber nicht in Frage gestellt werden, wenn sie von Glaubensgeist getragen sind. Personale Begegnung aber verlangt die überschaubare Größenordnung. Im Text wird die Meinung vertreten, dass für diese Form der Seelsorge Einzelgespräch – Familie – Kleine Gruppe die geeigneten Orte seien. Und noch einmal ein Zitat:                                  „Es geht hier um die kleine Gruppe, die Lebensgemeinschaft sein kann, nicht um jede derartige Gruppierung. Das Klima in einer solchen Gruppe wird bestimmt von Vertrauen, Offenheit und einem großen Maß von Intimität. Dabei ist wesentlich, dass hierbei absolute Freiheit herrscht. Der Einzelne darf nicht den Eindruck haben, von der Gruppe überspielt zu werden. Er darf nicht zu Offenheit gezwungen werden. Nur soweit die Einzelnen in der Gruppe zu je größerer Offenheit bereit sind, wird der entsprechende Prozess möglich sein.“

Den bereits bestehenden kleinen Gruppen sollte die Möglichkeit der Intensivierung deutlich gemacht werden, aber auch hier darf kein Druck entstehen. Freiheit ist für den Glauben und die Gemeinde das oberste Gebot.

In der Folgezeit war das „Prinzip der kleinen Gruppe“ ein Schlagwort, das alle kannten und mit Vorliebe benutzten. Selbst heute, Jahrzehnte später, kann man erleben, dass die inzwischen alt gewordenen Jugendlichen von damals sofort Bescheid wissen, wenn man sie nach dem Prinzip der kleinen Gruppe fragt. Nicht so sicher ist allerdings, ob sie dabei immer wussten, wofür die kleine Gruppe gut sein sollte.

 

Als ich in den späten Jahren das Arbeitspapier wieder gelesen habe, war ich immer noch von den Überlegungen angetan – mehr als vierzig Jahre, nachdem der Text entstanden ist. Und ich habe mich gefragt, ob es irgendwelche Anregungen gab, die wir bei den Überlegungen zu diesem Text aufgenommen haben. Denn es ist nicht wahrscheinlich, dass die Idee mit der Personalen Begegnung nur eigenen Überlegungen entsprang. Nun gab es zu der Zeit eine  breite Bewegung, die sich mit dem Namen Carl Rogers verband. Dass wir davon beeinflusst waren, ist möglich, aber nicht nachweisbar. Carl Rogers war ein US-amerikanischer Psychologe und Psychotherapeut, der eine personzentrierte (klientenzentrierte) Psychotherapie vertrat und praktizierte. Und in vielen Bereichen führten seine Ausführungen zu neuen und hilfreichen Ansätzen. Eine sehr ausführliche Zusammenstellung der Schriften von Carl Rogers und seiner vielfältigen Wirkungen fand ich in einem Buch, das 1989 im Echter Verlag in Würzburg erschienen ist: „Peter F. Schmid, Personale Begegnung. Der personzentrierte Ansatz in Psychotherapie, Beratung, Gruppenarbeit und Seelsorge“. – Immerhin eine Spur, die vielleicht auch nach Hochdahl geführt hat – schon 1971.

Ich habe oft überlegt, warum das Arbeitspapier damals für die Seelsorge keine Rolle gespielt hat. Bei der Sitzung, für die es entstanden war, ist es „durchgefallen“, wie jemand vor einiger Zeit einer alten Notiz entnommen hat. Das war zu erwarten. Denn wenn Kirchenvorstand und Pfarrgemeinderat zusammenkommen, stehen die praktischeren Dinge zur Debatte Und damals gab es viel zu planen und zu entscheiden. In dem Zusammenhang hatte das Arbeitspapier keine Chance. Es hat ja nur eine spezielle Sicht für die innere Entwicklung der Gemeinde angeboten. Der Text hätte genauso gut in einer Zeitschrift stehen können (das ist jetzt kein Qualitätsanspruch) und man hätte hin und her darüber diskutieren können. Aber er forderte keine Entscheidung für dieses oder jenes Verhalten. Die praktische Umsetzung wurde offen gelassen und dabei schlugen dann in der Planung für die Gemeinde die Aufgaben durch, die erkennbar und naheliegend waren. – Es kann auch sein, dass der Wunsch nach dem Neuen in der Gemeinde an anderer Stelle hinreichend stark war. Es war ja eine Zeit des intensiven Aufbruchs, sowohl in der Vorstellung vom Leben der Gemeinde, als auch in besonderem Maß in den Formen der Liturgie (Muttersprache, Teilnahme am Mahl der Eucharistie). – Es kann auch sein, dass der Weggang von Hans Meixner einige begonnene Entwicklungen durcheinander gebracht hat; vermutlich war seine Absicht Ende 1971 in der Gemeinde schon im Gespräch. Als er wegging, rückte nämlich die Frage nach der Leitung der Gemeinde und der Teamarbeit in den Mittelpunkt (vgl. Nr. 18).

 

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