11. „Wer mitmacht, erlebt Gemeinde“

Dieses Motto haben wir von der Franziskus-Gemeinde in Dortmund-Scharnhorst geklaut. Anfang der 70-er Jahre hatten wir einen lockeren Kontakt dorthin. Die Situation in Scharnhorst war mit der unseren vergleichbar, auch dort entstand ein Neubaugebiet und eine neue Gemeinde musste aufgebaut werden. Zwei Franziskanerpatres, Werenfried Wessel und Reinhard Kellerhoff, hatten die Leitung der Gemeinde für diese  Aufbauphase übernommen. Eine 1972 veröffentlichte Zwischenbilanz trug den Titel: Wer mitmacht, erlebt Gemeinde –Modell Dortmund-Scharnhorst. Wenn man dem Eindruck trauen darf, den einige Hochdahler in jüngster Vergangenheit gewonnen haben, dann hat diese Gemeinde es bis auf den heutigen Tag geschafft, ihre Ursprungsprägung zu bewahren und ein Leben im Geiste des Konzils zu führen. Man hörte allerdings auch, dass das nicht ohne immer neue Verdächtigungen und Schwierigkeiten von seiten der Diözesanleitung in Paderborn möglich ist.

 

Den Titel haben wir also damals als Motto für unsere Pfarrei übernommen. In der Praxis sah das so aus: hatte jemand eine Idee, was man in Hochdahl noch machen könnte und solche Ideen gab es viele, dann bekam er die Antwort: „Dann machen Sie es doch!“ Das hieß nicht, dass er mit seiner Idee und ihrer Verwirklichung allein gelassen worden wäre, sondern wir trauten ihm zu, dass er auch die Verantwortung für die Realisierung seiner Idee übernehmen könnte. Wenn Heiner Schuster also gerne im neuen Bürgerhaus ein großes Fest mit dem Titel „Tanz auf der Tenne“ machen wollte, dann hat ihm das niemand erlaubt oder verboten. Bei vielen in der Gemeinde fand seine Idee Anklang und der Spaß an der Sache griff um sich. – Und als die Stadt Erkrath Ende der 70-er Jahre eine Partnerschaft mit Cergy-Pontoise in der Nähe von Paris begann, war es ein Kreis von Frankreich-Begeisterten, der diese Idee auch für den Kontakt der Kirchengemeinden realisieren wollte. Die Geistlichen waren zwar beteiligt, aber die Treffen gingen auch selbstverständlich weiter, als sie nur noch sporadisch mitmachten. – Und als Brigitte Wolfers einen Gesprächskreis über die Erfahrungen und mögliche Verbesserungen in der Feier der Messe zusammenholen wollte, hat ihr niemand das Recht abgesprochen, so etwas zu tun. Sowohl der Gedankenaustausch als auch das mögliche Ergebnis galten als legitimer Vollzug des Lebens der Gemeinde.

 

„Wer mitmacht“, das sind also zunächst Leute, denen im Blick auf die Realität der Gemeinde eine Idee kommt. Die Idee muss sichtbar und hörbar werden und dafür gibt es viele Wege. Einige von denen, die von der Idee hören oder die angesprochen werden, fangen Feuer. Und auch die machen dann mit. Und sie werden miteinander überlegen und planen und die Idee der Realisierung zuführen. Und dabei erleben sie „Gemeinde“ – im Gespräch, im Zuhören und Argumentieren, im Planen und Organisieren. Sie erfahren Freude und Dankbarkeit, wenn Vertrauen und Übereinstimmung möglich werden und sie halten miteinander den Schwierigkeiten und dem Versagen stand. Und es wird auch Ideen geben, bei den am Schluss nicht die Verwirklichung steht, sondern die Einsicht: die Idee war ja schön, aber sie ist  nicht realisierbar. – Bei diesem Bild von Handeln in der Gemeinde bestimmt die Realität den Anfang und den Weg des Prozesses. Beim Blick auf das Leben der Gemeinde erkennt man Möglichkeiten und Defizite und es entsteht das Bedürfnis, etwas zu tun. Dabei sind irgendwelche „Zuständigkeiten“ überflüssig. Oder: zuständig ist jeder, der die Augen aufmacht und erkennt,  was zu tun ist.

 

Bei einer solch offenen Gemeinde muss man damit rechnen, dass Leute auftreten, die nur die eigenen Ideen realisieren wollen. Das können dann auch Ideen sein, die gegen den Geist einer derartigen Gemeinde gerichtet sind, die hemmen oder zerstören. Dann muss jemand korrigierend eingreifen. Oder die Gemeinde korrigiert ihn, entweder im Gespräch oder dadurch, dass er niemand findet, der mitmacht.    

 

Wer jetzt meint, hier ginge es um „mehr Demokratie in der Kirche“, der hat die Überlegungen missverstanden. Denn „mehr Demokratie“ ist ja der Wunsch nach einer Veränderung der Machtverteilung. Aber von Macht war die ganze Zeit nicht die Rede. Vielmehr war die Hoffnung formuliert, dass die Menschen einer Gemeinde die Realität oder die Wahrheit oder die Weisung Gottes in ihren Geist und ihr Herz hineinlassen. Jeremia hatte den Mut, so etwas für möglich zu halten, wenn Gott seinem Volk von neuem Heil schenkt.  „Keiner wird mehr den andern belehren, man wird nicht mehr zueinander sagen: Erkennt den Herrn!, sondern sie alle, klein und groß, werden mich erkennen – Spruch des Herrn.“ (Jer 31, 34)

 

Und der Leiter einer solchen Gemeinde wird nicht überflüssig. Er müsste derjenige sein, der auch viele Ideen hat, der vor allem offen ist für die Realität und dadurch – wie eine Formulierung für diesen Dienst lautet – seiner Gemeinde im Glauben vorangeht.

 

Wir haben das Motto „Wer mitmacht, erlebt Gemeinde“ damals wohl instinktiv als richtig erlebt und angewandt. Aber es hat ja einen tiefen theologischen Hintergrund. Und für diesen Hintergrund hatte die Theologie während und nach dem Konzil noch eine andere Formulierung. Da alle Getauften Kirche sind, ist die Gemeinde das Subjekt aller kirchlichen Lebensvollzüge und nicht das Objekt. Als wir vor ein paar Jahren mit Wolfgang Kraft, dem ehemaligen Spiritual der Theologiestudenten in Bonn, zusammen saßen und uns über Kirche und Gemeinde unterhielten, habe ich diese Formulierung so ausgesprochen. Er lachte kurz auf und wiederholte mit einem deutlich hörbaren Fragezeichen meine Aussage. Und noch heute meine ich in seinem Auflachen Trauer und Bitterkeit zu hören. – Ist denn diese theologische Wahrheit in der Realität der Kirche Illusion? Wie können wir die Zuversicht retten, mit der wir damals angefangen haben?

 

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