4. „Abraham, zieh fort, zieh fort …“

„Gott begegnet im Aufbruch“ ist der Titel eines Buches von Norbert Scholl, das ich vor Jahren mit Gewinn gelesen habe. Das markanteste Beispiel für diese Deutung religiösen Verhaltens ist Abraham, zu dem Gott spricht: „Zieh weg aus deiner Heimat … und geh in das Land, das ich dir zeigen werde“. Und in diesem Land, nämlich in Kanaan, begleitet dieser Gott seinen Herausgerufenen und gibt ihm seine Verheißungen – Nachkommenschaft, der Besitz des Landes, Segen für alle Völker. Wir haben in der Arbeit mit den Begleitern der Firmvorbereitung mehrmals diese Berufungssituation des Abraham durchgespielt, vor allem mit der Frage, was ihn an eigener Einsicht, an eigenen Erfahrungen bewegt haben mag, aus der alten Heimat wegzuziehen. Sehr einsichtig war uns dabei immer wieder, dass er möglicherweise die religiösen Praktiken seiner Umgebung, die Rituale und Aufmärsche und Opferriten nicht mehr ertragen hat. Immerhin lebte er im Norden des Zweistromlandes, wo es eine religiöse Kultur in hoher Blüte gab. Und so schlossen wir, dass eine festgefahrene Religiosität der Grund sein kann, durch den Gott einen Menschen ruft aufzubrechen.

 

Ein solcher Aufbruch war ja zweifellos die eigentliche Intention des Konzils. Es wollte doch das Leben der Kirche von den Verkrustungen der Vergangenheit befreien, die Fenster sollten weit aufgemacht werden für den frischen Wind der Erneuerung, ein neues Pfingsten sollte im Gebet erfleht und das Volk Gottes dafür bereitet werden. Und wenn Hans Urs von Balthasar einige Jahre vor dem Konzil einem Buch den Titel gab „Die Schleifung der Bastionen“, dann waren doch die Bastionen gemeint, hinter denen sich die Kirche verschanzt und scheinbar unangreifbar gemacht hatte. Eigentlich hätte doch um 1970 herum ein solcher Aufbruch dann auch in den Gemeinden vollzogen werden müssen, gewissermaßen als Anwendung der Konzilsergebnisse. Wenn ich dann heute feststelle, dass die seelsorglichen und liturgischen Praktiken in manchen Gemeinden die gleichen sind wie in meinen Kindertagen – unmittelbar nach dem Krieg –, dann darf man doch wohl fragen, warum diese Gemeinden unbedingt in den Verkrustungen der Vergangenheit verharren wollten. Andererseits kann man auch erfahren, wie schwierig es ist, in der Realität solcher Gemeinden neue Wege zu finden. Es herrscht oft die Auffassung, der Glaube fordere, dass alles bleibt, wie man es in Kindertagen gelernt hat. Und der Versuch, über den Glauben und das Leben nachzudenken, halten manche für den ersten Schritt in den Glaubensabfall. Und die Kirchenleitungen – wer das auch immer konkret ist – kreisen um das Problem des Priestermangels und zeigen damit nur, wie weit sie sich von dem Aufbruch des Konzils entfernt haben. Was war es demgegenüber für eine wunderbare Chance, die uns und den neuen Bürgern in Hochdahl religiös geboten wurde! 

 

Damals waren etwas mehr als 40% der Menschen, die nach Hochdahl zuzogen, katholisch. Und viele davon kamen mit einer hohen Motivation. Darf man diesen Auszug aus den alten Lebensbedingungen mit der Berufung des Abraham vergleichen oder darin eine Möglichkeit der Verwirklichung des Konzils sehen? Glaubende, die gerufen sind, in ein neues Land aufzubrechen – zumindest in eine neue Stadt! Wir jedenfalls sind mit dem Schwung des Konzils an die Arbeit gegangen. Diese Deutung ist damals natürlich so nicht formuliert worden, wenn auch vielleicht manches davon im Unterbewusstsein vorhanden war und wirkte. Unser Blick war stärker auf die praktischen Erfahrungen und Vorgänge gerichtet. Wer seine bisherige Umgebung verließ, verlor normalerweise ein Stück seiner Beheimatung und seiner Tradition. Wer wegzog, konnte der Gruppe oder dem Verein, in dem er bis dahin eingebunden war, höchstens noch sporadisch oder auf Entfernung angehören. Viele werden sich auch ganz verabschiedet haben. Und vielleicht war es für den einen oder anderen auch wirklich ein Weg in die Freiheit, sind Vereine mit ihrer Tradition doch oft auch einengend und belastend. Aufzüge, Feste, Feiern – und immer dasselbe und immer alles selbstverständlich. Viele haben offensichtlich dieser ihrer Vergangenheit nicht nachgetrauert. Andererseits gab es aber auch den Mann, der über all die Jahre in Hochdahl lebte und fest eingebunden war, in der Karnevalszeit aber regelmäßig im Elferrat der Katholischen Jugend in Düsseldorf saß. Wahrscheinlich ein Beispiel für viele. Warum auch nicht? Es ist auch bekannt, dass es Leute gegeben hat, die nach einem „Schnupperkurs“ in der neuen Stadt Hochdahl doch recht schnell wieder in ihre alte Heimat zurückgekehrt sind.  

 

Was viele aus ihrer bisherigen Umgebung mitbrachten und was den Aufbau der Franziskusgemeinde in der neuen Stadt getragen hat, war eine hohe Identifikation mit Glaube und Kirche. Es gab Menschen, die noch im prägenden Milieu des Münsterlandes und in einer betont christlichen Familie groß geworden waren. Andere waren in der alten Pfarrei aktiv gewesen, weil der Pastor auf sie aufmerksam geworden war und sie in der Jugendarbeit eingesetzt hatte. Und der Obermessdiener von Gerresheim hatte eben nicht nur den „Dienst am Altar“, sondern gleichzeitig auch die Mitverantwortung für die Pfarrei gelernt. Gleichzeitig waren die Erfahrungen und Vorstellungen, die sie für das Leben in der neuen Gemeinde mitbrachten, sehr unterschiedlich. Sie kamen ja auch von überall her nach Hochdahl. Aus dieser Verschiedenheit einen Weg in eine gemeinsame Zukunft zu finden, war eine spannende Aufgabe.

 

Und sehr viele waren bereit, sich auf diese Aufgabe einzulassen. Immer wieder haben wir gefragt, überlegt, diskutiert und ausprobiert, wie es denn gehen könnte. Und dazu waren alle eingeladen und aufgerufen. Im Pfarrausschuss und dem daraus entstehenden Pfarrgemeinderat, in Arbeitsgruppen (z.B. „Jugendausschuss“)  und in Versammlungen für die ganze Gemeinde ging es manchmal hoch her; aber es entwickelten sich auch Erkenntnisse und Lösungen. Das Ziel war eine Gemeinde, in der man heute als Mensch und Christ leben kann. Deshalb verbot es sich, die alten Formen und Strukturen wieder einzuführen. Wir hatten von Anfang an in Hochdahl keine kirchlichen oder „kirchennahen“ Verbände, keine KAB, keinen BdkJ, keine Pfadfinder, keine Schützen, keinen Karnevalsverein. Natürlich haben wir die alte Kolpinggruppe nicht aufgelöst und auch die Frauengemeinschaft war resistent gegen unseren grundsätzlichen (theologisch gut begründeten) Ansatz. Wir waren der Meinung, dass es genügt, sich in der Gemeinde als Glaubende zusammenzufinden und aus diesem Zentrum heraus alle möglichen Lebensformen zu entwickeln. Wen wundert, dass im Laufe der Jahre die katholische Franziskusgemeinde in Hochdahl als exotisch oder anormal oder gar als „nicht mehr ganz katholisch“ eingeschätzt wurde.

 

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